VOM GRÖSSTEN ALLER DESIGNER ein Essay von Franzobel

Die Gerade ist eine wohlgeratene
Erfindung des Menschen.
Deswegen hat die Schlange im
Paradies Adam und Eva auch nicht
mit einem Apfel verführt, sondern
mit einem Lineal.

Die Architekten des Bauhauses sind sowohl mutig als auch ängstlich, und das hängt mit der Zeit zusammen. Die Zeit nämlich, behaupten manche Quantenphysiker, gibt es nicht. Sie sei ein Konstrukt des Menschen, um die Verkettung der Ereignisse zu verstehen. In Wahrheit existiere alles gleichzeitig und nebeneinander, Zukunft und Vergangenheit. Was bedeutet das? Ewige Gegenwart? Ein interessanter Gedanke, so revolutionär, dass ihn nicht einmal die Physiker selbst begreifen.

Wer denkt sich das aus? Wer hat es gemacht? Schon auf einer ganz anderen, wesentlich trivialeren Ebene ist alles gestaltet: Vom Eierbecher über die Kaffeemaschine bis hin zum Suppenlöffe – alles ist designt. Städte, Landschaften, Frisuren, ja selbst das Geräusch beim Zuschlagen einer Autotür ist komponiert. In Asien schnurrt ein Motor anders als in Europa und Coca Cola, Sprite oder ein Big Mac schmecken in jedem Land verschieden. Kein Produkt, über das sich nicht irgendwer den Kopf zerbrochen hat, wie seine Funktion mit einer schönen Form zusammengeht. Und nicht wenige dieser Konstruktionen sind inspiriert von der Natur. Da gibt es Autos, die wie Käfer aussehen, an Weinreben orientierte Gitter, schneckenförmiges Gebäck.

Nur eines gibt es in der Natur so gut wie gar nicht – die Gerade. Die kürzeste Verbindung zweier Punkte war für den größten Designer und Schöpfer von fast allem nicht notwendig, weil ja alles gleichzeitig, nebeneinander und irgendwie verschlungen ist. Die Gerade ist eine wohlgeratene Erfindung des Menschen. Deswegen hat die Schlange im Paradies Adam und Eva auch nicht mit einem Apfel verführt, sondern mit einem Lineal. Gottes Sohn wurde auf zwei gekreuzte Geraden genagelt und auch der Pfahl der Scheiterhaufen, auf denen die Inquisition ihre armen Opfer verbrannte, war gerade. Gerade die Gerade ist ein ketzerischer Gedanke. Vielleicht eckt deshalb die Bauhaus-Architektur noch immer an und irritiert die abstrakte Kunst, so sie sich auf Linien und geometrische Formen beschränkt, derart? Geraden schaffen geradezu klare Verhältnisse, Symmetrien oder Asymmetrien, Eindeutigkeiten. Während die ungezähmte Natur wild und bedrohlich ist, schafft die Gerade Sicherheit. Absperrbänder, Grenzmarkierungen, Straßen – der Mensch bricht die Welt auf sein Maß herunter.

Geraden sind schwer zu widerlegende Behauptungen und Krücken für den Menschen. Auch die Zeit, wie wir sie uns vorstellen, ist eine Gerade. Aber angeblich existiert sie ja gar nicht, zumindest nicht so, wie unser kleiner Hausverstand sie denkt.

Geraden verleihen Sicherheit, schaffen Refugien in einer chaotischen, ausartenden, unbegreifbaren Welt. So gesehen sind die Architekten des Bauhauses ängstliche Menschen, die sich von der üppigen und bedrohlichen Natur mit klaren Linien abgrenzen, Sicherheiten schaffen. Sie sind aber auch mutig, ihre klaren Formen haben etwas Ketzerisches, Subversives, Unnatürliches. Doch wenn es stimmt, dass es Zeit gar nicht gibt, waren auch sie schon immer da. Lang lebe die Gerade, jetzt und immerdar.

Franzobel ist ein österreichischer Schriftsteller. Er veröffentlichte zahlreiche Theaterstücke, Prosa und Lyrik. Seine Theaterstücke wurden unter anderem in Mexiko, Argentinien, Chile, Dänemark, Frankreich, Polen, Rumänien, der Ukraine, Italien, Russland und den USA gezeigt.

Sein großer historischer Abenteuerroman „Das Floß der Medusa“ (Zsolnay Verlag) wurde mit dem Bayerischen Buchpreis 2017 ausgezeichnet und stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2017