Wo beginnt und endet Raum? Wie unterscheiden sich Alltag und Notfall, wie Produkt und Produktion? Die Arbeiten von Thilo Jenssen (*1984 in Daun, lebt und arbeitet in Wien) und Sofia Hultén (*1972 in Stockholm, lebt und arbeitet in Berlin) machen solche Zustandsgrenzen deutlich, um sie gleichzeitig mit Gegenentwürfen zu erweitern. Beide bedienen dabei ähnliche Konzepte auf unterschiedliche Weise, indem sie ihre Serien auf die Modifikation von gefundenem Material stützen.
Sofia Hultén transferiert Objekte des Außenraums ins Innere. So sind etwa gebrauchte Baggerzähne an die Galeriewände montiert, die kaum noch als solche erkennbar sind: Moduliert und poliert, befreit von jeder Baustellenästhetik, sind sie nicht mehr Instrumente von Produktionsstätten, sondern Ikonen eines eigenen Gestaltungsprozesses. Man glaubt immer wieder Momente ihrer vergangenen Verwendbarkeit fassen zu können, verwirft den Gedanken aber im selben Augenblick. Sind sie so nicht auch Platzhalter der Zufälligkeit des Alltags?
Denn die Künstlerin greift zwar immer wieder kollektiv bekannte Gebrauchsgegenstände auf, macht sie aber durch geringfügige, doch essenzielle Änderungen zu polymorphen Anschauungsobjekten. So etwa Super Call Me Fragile Ego, eine Serie von Tonplastiken, zusammengesetzt aus Kanalrohrteilen. Dunkles Acrylglas gibt vor, sie mit Flüssigkeit zu füllen. Was ist echt, was Schein? Beides wirkt plausibel. Denn unsere Realität könnte genauso gut eine völlig andere sein: Jede Handlung und jedes Ereignis basieren auf unzähligen, wandelbaren Faktoren. Wer bestimmt Formen und Strukturen? Könnte nicht jeder Moment, jedes Objekt eine völlig andere Gestalt annehmen? Diese undenkbare Unendlichkeit an Möglichkeiten summiert Hultén in ihren Arbeiten.
Auch die Beziehung von Subjekt und Objekt, die längste Zeit unter der Annahme stabiler Verhältnisse stand, ist dabei keine Ausnahme. Praktisch wie ontologisch war die Relation bisher in zwei Sphären geordnet: Menschen seien Menschen; Dinge seien Dinge. Die Konsequenz: Der Mensch mache Gebrauch von den Dingen. Doch eine Hose, die wie von selbst um einen Straßenpoller tanzt, bestärkt die Wahrscheinlichkeit einer verkehrten Machthierarchie: Ist der Mensch nicht abhängiger von seinen Dingen als umgekehrt?
Thilo Jenssens Screenshot Paintings materialisieren Sequenzen digitaler Körperstützen. Automatisierte Notrufe, repetitive Alarme und idyllische Sperrbildschirme werden mittels UV-Druck auf die Leinwand appliziert, um sich durch Abschliffe im Dialog von Dystopie und Utopie wieder aufzulösen. Ähnliche Regulierungsstrukturen intersubjektiver Macht- und Hilfssysteme hinterfragen Jenssen’s Blech Paintings. Neben monochromen Flächen zeigen sie theatralisch inszenierte Situationen zwischen Sicherheit und Kontrolle; die Darstellungen stammen dabei aus dem über Jahre akkumulierten Archiv von Erste-Hilfe-Anleitungen des Künstlers. Die Distanz zwischen der Dramaturgie der Abbildung und der Realität des Abgebildeten verweist auf das Bewusstsein der Fragilität und Abhängigkeit menschlicher Körper.
Dem gegenüber steht die physische Brutalität des Bildträgers: Einfarbiger Lack, konturiert und rhythmisiert durch Schweißspuren, urgiert Referenzen auf Color Field Painting und Minimal Art. Doch die Gemälde, die ihr Material und die Prozessualität ihrer Herstellungsmechanismen offensichtlich machen, übertreten ihre medialen Grenzen und zeigen nicht nur ihre fotografische, sondern auch skulpturale Qualität.
Wie sinnvoll sind Kategorien noch? Vor diesem Hintergrund ist die Ausstellung UPPERS AND DOWNERS ein einzigartiges Antidot gegen alle Begrenzungen des Alltags. (Teresa Kamencek, 2022)
13 Okt. – 26 Nov. 2022
Dienstag bis Freitag 11:00 – 18:00 & Samstag 11:00 – 16:00
Christine König Galerie, Schleifmühlgasse 1a, 1040 Wien
Fotocredits: Manuel Carreon Lopez, Nick Ash, Christine König Galerie
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