Schöne neue Welt, Text: Nina Prehofer
Die Welt nimmt langsam wieder Geschwindigkeit auf. Doch was ist mit uns Menschen während des vermeintlichen Stillstands passiert? Eine Bestandsaufnahme in vier Teilen.
Dieser Artikel wird begleitet von einer Fotostrecke mit dem Titel „Chaos, Wachstum und Licht“ der Fotografin Mathilde Karrèr.
GESCHÖPF
Wir Menschen. Wir haben viel erreicht, die Welt geformt und sind dabei, sie zu zerstören. Wir sind gut, wir sind böse. In den meisten von uns steckt beides. Krisen bringen das Beste und das Schlechteste in uns Menschen hervor. Wir sind aufopfernd dazu bereit, einander zu helfen, wir können aber auch ohne mit der Wimper zu zucken einander denunzieren. Es gibt Menschen, die spenden Geld, um die Not anderer zu lindern. Es gibt Menschen, die kaufen Waffen, um alles, was sie haben, bis in letzter Konsequenz zu verteidigen.
Im Podcast „Weltspiegel Thema“ der ARD Audiothek berichten Reporter und Korrespondenten aus Spanien, den USA und Mexiko, wie sich die Gesellschaft während der Coronakrise verändert hat. Spanien ist ein von der Krise stark gebeuteltes Land mit rigorosen Ausgangssperren im Kampf gegen die Pandemie. Dort finden sich jeden Abend Menschen auf ihren Balkonen ein, um für die Ärzte und Pfleger zu klatschen – als Anerkennung dafür, dass sie an vorderster Front kämpfen.
Auch dort gibt es wiederum jene Menschen, die ebendiesen „Helden“ Zettel an die Tür hängen, auf denen zu lesen ist, sie mögen doch lieber ausziehen, weil sie eine Gefährdung der anderen Bewohner im Haus darstellen würden. In den USA gehen die Waffenkäufe durch die Decke, aus Angst vor bürgerkriegsartigen Zuständen, Geschäfte werden aus Angst vor Plünderungen verbarrikadiert. Währenddessen werden die Schlangen an den Essensausgaben immer länger.
Geschöpf by Atelier PMP
Perfumers: Mark Buxton und David Chieze
2020
Wir fühlen uns bedroht. Das macht einen Teil von uns solidarisch, die anderen wollen mit aller Gewalt oder Macht, die ihnen zur Verfügung steht, alles was sie haben verteidigen. Was passiert mit uns? Die Umweltpsychologin Isabella Uhl-Hädicke, die an der Uni Salzburg zur Klimawandel-Kommunikation forscht und NGOs und Unternehmen berät, sagt in einem Interview mit ZEIT Wissen, dass eine Bedrohung wie diese für uns den totalen Kontrollverlust bedeute. Dieser führe dazu, dass wir versuchen würden, wenigstens unsere eigene kleine Welt zu kontrollieren, da uns dies zumindest in geringer Form das Gefühl von Selbstwirksamkeit gebe. Im Angesicht der Bedrohung fokussieren wir außerdem stärker auf unsere gesellschaftlichen Normen und unsere eigene Gruppe.
Das helfe uns, mit der Angst umzugehen, obwohl es am Problem nichts ändere.
Wie kann man also grundlegende Einstellungen verändern und die Menschen zu positivem Verhalten „anstiften“? Darauf antwortet Uhl-Hädicke, dass sich Wertvorstellungen leider wirklich nur schwer verändern ließen. Am stärksten beeinflusse das Vorbild anderer. Wenn sich durch das Verhalten von immer mehr Menschen soziale Normen ändern, wenn eine neue Mehrheit entsteht, dann würden die anderen oft einfach mitgerissen.
Je mehr Menschen sich also solidarisch zeigen, Gutes tun und es auch andere wissen lassen, umso mehr Menschen lassen sich davon überzeugen, es ihnen gleichzutun.
So sind wir.
LE TEMPS PERDU
Wir sind es gewohnt, in einer permanenten Zeitnot zu leben. Viele von uns zumindest. Wir machen alle möglichen Dinge gleichzeitig und versuchen unsere Tage voller zu machen, als es für uns gut ist. Am Ende des Jahres wissen wir trotzdem nicht so genau, womit wir unsere Zeit eigentlich verbracht haben. Wir sind frustriert, weil wir weder das erreicht haben, was wir uns beruflich vorgenommen haben, noch private Ziele, wie öfter mal ins Theater zu gehen oder ein bisschen mehr zu reisen.
Haben wir in den letzten Monaten nun also Zeit gewonnen oder doch verloren?
Le Temps Perdu by Salle Privée
Perfumer: Tanja Deurloo
2017
Trotz vieler Initiativen im Online-Bereich scheint es für den Kulturbetrieb zu einer verlorenen Zeit geworden zu sein. Viele Künstler und Kreative wurden in ihrem Schaffen beschnitten oder einfach gehemmt, da diese Unfreiheit für sie zur Ohnmacht wurde. Lag es daran, dass wir verdammt dazu waren, zu warten? Dass wir nicht wussten, wann und wie sich unsere alte Normalität wieder einstellen würde? Dass wir mit dieser Leerzeit zu wenig anzufangen wussten? Empfinden wir sie deswegen als verlorene Zeit, weil wir uns von unserer Getriebenheit nicht lösen können?
Jean-Jaques Rousseaus Paradox lautete:
Zeit verlieren heißt Zeit gewinnen.
Daran sollten wir vielleicht öfter denken, vor allem, wenn uns die Schnelligkeit der Welt wieder voll erfasst hat.
NEW TRADITION
London. In Gedanken zumindest, denn persönlich treffen konnten wir Brendan Murdock, den Erfinder von anatomē, einer Brand für hochwertige Vitamine, Nahrungsergänzungsmittel und therapeutische Öle, zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Wir wollten wissen, wie jemand, der mit seinem Unternehmen bereits in „normalen“ Zeiten Menschen dabei hilft, einen gesunden Körper und Geist zu bewahren, in „anderen“ Zeiten lebt und optimistisch bleibt.
Ich habe das Glück, einen Garten zu haben, der in diesen Zeiten von großem Nutzen war. Es war wunderschön, denn ich habe noch nie so bewusst den Übergang vom Winter in den Frühling beobachtet. Ich war selbst plötzlich so wachsam und es begeisterte mich zutiefst, das Eintreffen des Frühlings mit seinem Wachstum, dem Vogelleben und dem Aufblühen für mich neu zu entdecken. Es war also eine überraschend nahrhafte Zeit. Und ich habe festgestellt: Gartenarbeit ist ein großartiges emotionales Tonikum.
Zu seinem Tagesprogramm zählten außerdem lange Spaziergänge auf dem Land, wo er lebt, seinem Hund und eine Investition in Heim-Fitness-Accessoires, die nun in den Tagesablauf integriert werden, um gesund zu bleiben. Mehr Zeit gab es auch dafür, sich Gedanken über das Essen und die Ernährung zu machen. An einem normalen Arbeitstag in London blieb Murdock sonst keine Zeit dafür. Wie viele andere hat er sich auch dem Backen zugewandt und fand diese Verlangsamung eines Prozesses in vielerlei Hinsicht nützlich.
New Tradition by ETRO
Perfumer: Jacques Flori
2002
Für sein Unternehmen „anatomē“ eröffneten sich ebenso neue Möglichkeiten.
Wir haben die Krise genutzt, um eine klare digitale Strategie zu entwickeln und dankenswerterweise hat sich unser Online-Verkauf bereits verbessert.
Die neue Plattform geht im August online. Auch ein verstärkter Kontakt zur eigenen Community wurde forciert und Initiativen für Mitarbeiter von Krankenhäusern in der Nähe seines Londoner Geschäfts wurden gestartet.
Natürlich entstanden dadurch auch neue Produkte, wie ein Bio-Hand-Sanitiser, der mit ätherischen Ölen gemischt ist und die Hände trotz des hohen Alkoholgehalts wirklich nährt. Darüber hinaus gibt es ein neues Nahrungsergänzungsmittel, um das Immunsystem zu stärken.
Da ich zu Hause war, hatte ich mehr Zeit, über Produkte nachzudenken, die unterstützend in unseren eigenen vier Wänden wirken. Wir haben jetzt eine wirklich schöne Sammlung von Keramik-Diffusoren und ein neues Raumspray auf den Markt gebracht, um damit unsere „support and protection collection“ zu ergänzen.
THE NEW PARADISE
Während für einige Menschen die Zeit der Quarantäne und des Lockdowns eher zu Blockaden des kreativen Gehirns geführt hat, konnten andere die Zeit für sich deutlich besser nutzen. Der Interior Designer und Künstler Felix Muhrhofer (Anm. Interview >>) begeisterte auch seine Kinder für seinen Workshop in Nußdorf.
In einer Werkstatt wie bei mir kann man wahnsinnig viel entdecken. Das ist aufregend und spannend. Toll ist, wenn Kinder diesen Spirit mitbekommen, dass man eigentlich alles bauen kann. Man muss sich nur damit beschäftigen und sich etwas überlegen,
erzählt er uns.
So entstanden viele Ideen für Dinge, die sie selbst machen wollen, und das eine oder andere Stück wurde bereits realisiert. Muhrhofer glaubt, das Wichtigste, das er seinen Kindern beibringen konnte, war die Freude am Tun, „mit den Händen zu arbeiten und daran Freude zu haben“. Seine Kinder waren allerdings schon immer in seine Arbeit eingebunden. Seine Werke aus dem Material Terrazzo brauchen viele Steine, und die werden auch auf Familienreisen gemeinsam gesammelt.
Jetzt haben sie allerdings den ganzen Prozess einmal durchgemacht und verstehen meine Arbeit viel besser. Ich finde es schon wichtig, dass meine Kinder wissen, was ich den ganzen Tag so mache.
Bei Felix Muhrhofers ältester Tochter ist der Spirit bereits angekommen. Sie hat sich dazu entschlossen, Goldschmiedin zu werden.
The New Paradise by Ramón Monegal
Perfumer: Ramón Monegal
2019
Und wie war es um seine Kreativität bestellt, als die Welt stillzustehen schien?
Ich habe die Zeit wahnsinnig genossen. Es war der konsekutive Sonntag – und ich arbeite gerne sonntags, weil da das Telefon nicht läutet. Man kann sich viel konzentrierter einer Sache widmen. Man muss nur zum gemeinsamen Essen zu Hause sein.
Für Muhrhofer war die Zeit also ein Gewinn. Er konnte viele Stücke, die ihm persönlich am Herzen lagen, fertig machen. Wahrscheinlich gibt es schon bald eine eigene „Quarantene Collection“ zu sehen. Denn die berühmte Interior Designerin Kelly Wearstler möchte seine Werke in ihrer Galerie in L.A. präsentieren. Der konsekutive Sonntag, ein neues Paradies, war es also für Felix Muhrhofer.
Vielleicht schaffen wir es ja, die vielen positiven Momente der letzten Zeit in die Zukunft mitzunehmen und uns eine neue Lebensfreiheit zu schaffen. Denn der Titel dieser Geschichte kann so oder so gedeutet werden. Wörtlich oder dystopisch, wie im gleichnamigen Roman von Aldous Huxley.
Letztlich kommt es auf uns Menschen an.
Fotos: Mathilde Karrer
Mathilde Karrèr über Chaos, Wachstum & Licht
Anfangs war unsere Serie naiver: Ein Neuanfang, ein neues Zuhause – eine lustige, unbeschwerte Serie verweist auf eine Frühlingserzählung von Neuanfängen. Aufgrund der Umstände haben wir uns einen Moment Zeit genommen, alles zu überdenken und etwas tiefer zu gehen.
Das Wachstum aus dem Chaos heraus, die Suche nach einem Leitlicht, die Neuausrichtung und die Erkenntnis, dass diese nur ein winziger Teil eines größeren Schemas sind, waren einige Gedanken, die diese Serie geprägt haben.
Wenn man in Berlin lebt, so wie ich, ist man offensichtlich Teil eines Ortes, der viele Male buchstäblich an die Vergangenheit, das Chaos und das Wachstum erinnert.
Ich sah mich um und sammelte Teile der Stadt aus beiläufig weggeworfenen Materialien und Unkraut, das aus dem Bürgersteig wuchs, um diese Fotoserie zu schaffen.
Die Fotoserie „Chaos, Growth & Light“ entstand in Zusammenarbeit der Fotografin Mathilde Karrèr mit dem Publizisten Helder Suffenplan. Sie erscheint zeitgleich im THE Stylemate und auf SCENTURY.com, dem ersten Online-Magazin für Perfume Storytelling. Helder Suffenplan ist außerdem Kolumnist für THE Stylemate. Seine Beiträge finden Sie hier >>.
Über Mathilde Karrèr und ihre Arbeit
Fotografie und Bühnenbild sind zwei Professionen, die Mathilde Karrèr nutzt, um damit verschwenderische und dennoch subtile Kompositionen zu einer fesselnden Erzählung zu verbinden.
Auf halbem Weg zwischen Gemälden und Film-Stills sind ihre Fotografien aufwendige, visuell reiche Mikrowelten mit wissentlich ausgewählten Details.
Foto by Marick Baars
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