Nur wer die Zeit hat, sich einzulassen, wird auch etwas erleben, fühlen.
Es gibt Sehenswürdigkeiten, die den Namen nicht verdienen – weil man sie unbedingt gesehen haben muss, sollten sie Sehensmüssigkeiten heißen. In New York sind es die Freiheitsstatue und das Empire State Building, in Paris der Eiffelturm, die Mona Lisa, in Mailand sollte man zum Abendmahl und in Moskau muss man die Lenin-Leiche sehen. Madame Tussauds Wachsfiguren gehören in London ebenso zum Pflichtprogramm wie in Madrid der Prado, die Uffizien in Florenz. Außerdem die Sagrada Familia in Barcelona, die Villa Borghese in Rom, die Akropolis, Hagia Sophia, die Karlsbrücke und vieles mehr.
Noch vor zwanzig, dreißig Jahren war das kein Problem, ist man entspannt hingefahren, hat eine Karte gelöst, um sich zu berauschen. Heute, da die ganze Welt unterwegs ist, diese Sehensmüssigkeiten fotografiert und im sozialen Netzwerk geteilt haben will, muss man schon vorher sehr berauscht sein, um die Menschenschlangen zu ertragen. Das Anstellen für den Eiffelturm beginnt beim Arc de Triomphe, die Schlange vor dem Empire State Building reicht bis zum Central Park und um in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett zu gelangen, kann man sich gleich in Heathrow in die Reihe stellen. Bei der Villa Borghese, ich liebe die Skulpturen von Bernini, wurde mir der Eintritt ganz verwehrt, darf nämlich nur noch hinein, wer vorab im Internet ein Ticket erworben hat, was all die Reisepauschalisten selbstverständlich tun. Aber der flanierende Individualist, der an kein fixes Programm gebunden sein will?
Es gibt zu viele Menschen für zu wenige Attraktionen. Selbst bei täglich zehntausend Besuchern dauert es fünfzig Jahre, bis zwei Milliarden Menschen etwas gesehen haben. Noch nicht einmal die Hälfte aller Asiaten! Doch wozu? Damit die Leute durchgeschleust werden, ohne Zeit zu haben, das Kunstwerk zu inhalieren, etwas anderes zu spüren als Rucksäcke in den Nieren, Fotoapparate, fremde Schuhe auf den Fersen, verdautes Essen von Touristenfallen. Überall geht es zu wie in Moskau vor der Eröffnung der ersten McDonald´s-Filiale oder vor Apple-Stores, wenn ein neues iPhone auf den Markt drängt. Alle sind verrückt, campieren tagelang vor einer Kasse.
Bald wird das nicht mehr gehen, wird es eine Sehenswürdigkeiten-Lotterie geben. Oder man macht es wie beim Ayers Rock, dem heiligen Berg der Aborigines, wo mittlerweile T-Shirts mit dem Aufdruck „Ich war nicht auf dem Uluru!“ angeboten werden. Freiwilliger Verzicht!
Der Mensch muss wieder lernen zu schauen, zu begreifen und zu staunen. Das gehetzte Abarbeiten von Sehenswürdigkeiten ist lächerlich und sinnlos. Nur wer die Zeit hat, sich einzulassen, wird auch etwas erleben, fühlen. Bei den totgeschauten Kunstwerken geht das kaum noch, weil im Gedränge jede Empfindung niedergetrampelt wird. Aber abseits der Sehensmüssigkeiten gibt es vieles, das es lohnt, entdeckt zu werden. In Rom die Scala Santa oder die Caravaggios in unscheinbaren Kirchen, in Moldawien das Felsenkloster, in Mailand die Brera oder in Harlem eine Gospel-Messe, ganze Städte wie Bamberg oder Schwäbisch-Hall. Es gibt so viele wunderbare Orte, Dinge, man muss nur offen dafür sein.
Franzobel ist ein österreichischer Schriftsteller. Er veröffentlichte zahlreiche Theaterstücke, Prosa und Lyrik. Seine Theaterstücke wurden unter anderem in Mexiko, Argentinien, Chile, Dänemark, Frankreich, Polen, Rumänien, der Ukraine, Italien, Russland und den USA gezeigt.
Sein großer historischer Abenteuerroman „Das Floß der Medusa“ (Zsolnay Verlag) wurde mit dem Bayerischen Buchpreis 2017 ausgezeichnet und stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2017
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