Er gilt als Revolutionär der Gemüseküche. Nun hat Paul Ivić mit „Restlos glücklich“ sein drittes Kochbuch auf den Markt gebracht. Der Sternekoch über bewussten Genuss, seine Rolle als Brückenbauer und den Geschmack seiner Kindheit.
Interview: Anja Tranninger, Fotos: Tian Restaurant
Wie überzeugen Sie einen eingefleischten Schnitzel-Liebhaber davon, einen Tisch in Ihrem vegetarischen Sternerestaurant TIAN zu reservieren?
Paul Ivić: Mit dem höchsten Anspruch an Geschmack. Wir haben nach wie vor, selbst nach zehn Jahren, immer wieder primär Männer, die zuerst ziemlich unentspannt sind, weil sie quasi das letzte Abendmahl ohne Fleisch vor sich haben. Aber nach dem zweiten Gang entspannen sie sich, weil sie merken, Wow, das ist kreativ, also nicht absurd kreativ, sondern einfach eine sehr spannende Erfahrung. Da kommt man dann mit den Leuten ins Gespräch. Und dabei ist der Geschmack unser größter Verbündeter. Ich sehe uns als Brückenbauer.
Essen soll Spaß machen, vor allem bei uns.
Ein Zitat aus Ihrem neuen Kochbuch lautet: „Und wenn eine Verbesserung der Welt gar mit Genuss zu erreichen ist, wer könnte sich dagegen verschließen?“ Wie lässt sich mit bewusstem Genuss die Welt verbessern?
Paul Ivić: Ich finde, Essen muss man ganzheitlich sehen. Das beginnt schon bei der Agrarwirtschaft – von den Monokulturen, die unsere Böden kaputt machen, bis zu den Herbiziden und Pestiziden, die ich nicht gutheiße, aber auch nicht komplett verteufeln will. Durch die Überdüngung kommt Nitrit ins Wasser und vergiftet es. Und was beim Fischfang und der Masttierhaltung an Hormonen und Antibiotika eingesetzt wird, ist schädlich für uns und führt zu Antibiotikaresistenzen. Wenn wir außerdem billig einkaufen, beuten wir automatisch Menschen aus, die für Niedriglöhne arbeiten müssen.
Mit jedem Einkauf tragen wir also dazu bei, einen Teil dieses Systems zu verändern.
Verraten Sie uns ein paar konkrete Tipps, um unseren Nahrungsmittelkonsum bewusster zu gestalten?
Paul Ivić: Vor dem Einkauf aufschreiben, was ich tatsächlich brauche. Nicht zu viel in den Einkaufswagen legen, lieber gehe ich ein zweites Mal. Und in einem ersten Schritt zumindest zu Bio-Lebensmitteln greifen. Was ich weitestgehend vermeiden würde, sind industriell produzierte Lebensmittel, weil man es sich wieder wert sein sollte, für sich etwas Gutes zu kochen. Und vielleicht auch einfach mal mit Landwirten sprechen, die biodynamisch arbeiten, da erfährt man sehr viel.
Sie plädieren dafür, Abfall zu vermeiden und Reste zu verarbeiten. Ein einfaches Rezept, bei dem die Biotonne leer bleibt?
Paul Ivić: Wenn ich für meine kleine Tochter koche, schäle ich die Karotten, weil sie dann ein bisschen feiner schmecken. Die Schalen lasse ich trocknen. Daraus kann man dann einen wunderbaren Gemüsefond zaubern, den habe ich jetzt erst heute Früh gemacht. Die Karottenschalen gemeinsam mit getrockneten Sellerie- und Zwiebelschalen in zwei Liter Wasser 15 Minuten aufkochen, ein bisschen Salz dazu, etwas einreduzieren lassen – fertig!
Während der Zeit der pandemiebedingten Isolation haben Sie sich mit Gastronom Sepp Schellhorn amüsante Kochduelle auf Instagram geliefert sowie die neue Produktlinie „TIAN zuhause“ kreiert. Welchen Geschmack verbinden Sie mit Corona?
Paul Ivić: Einen leicht bittersüßen Geschmack. Süß war die Geburt unseres Kindes im vergangenen Sommer – das allerschönste Erlebnis überhaupt! Und bitter ist, dass wir nicht das ausüben konnten, was wir wollen – kochen und Gäste verwöhnen.
Welche Bedeutung hat der soziale Wert von Essen heute?
Paul Ivić: Ich glaube, der soziale Wert war immer schon sehr groß, vielleicht wird er dem einen oder anderen jetzt nur noch mehr bewusst. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, erinnere ich mich an den Duft von Vanillekeksen, die Tiroler Speckknödel, das Zusammensein und das Probieren, wenn ein Kuchen angerührt wurde. Und das schafft eine irrsinnig tiefe Bindung und der Samen ist gesät.
Essen ist mehr als nur schnelle Nahrungsaufnahme, es hat auch einen sehr starken Einfluss auf unsere Ökonomie, unsere Ökologie, unser Sozialverhalten und auf unsere Gesundheit.
PAUL IVIĆS
kulinarische Reise beginnt im Alter von 14 Jahren, als der gebürtige Tiroler mit kroatischen Wurzeln nicht mehr in die Schule gehen will und seine Schwester ihm vorschlägt, Koch zu werden. Der Weg des überzeugten Befürworters biodynamischer Landwirtschaft führt ihn nach Deutschland, Österreich und die Schweiz bis schließlich nach Wien, wo er seit 2011 als Küchenchef und Geschäftsführer das Aushängeschild des TIAN Restaurant ist.
Mit seinen unvergleichlich raffinierten Kreationen aus vegetarischen, fair produzierten Zutaten, darunter auch beinahe in Vergessenheit geratene Gemüse-, Obst- und Getreidesorten, erkocht der Vater einer Tochter für das TIAN in Wien einen Michelin-Stern und vier Hauben von Gault Millau. Damit zählt das TIAN zu wenigen von Guide Michelin ausgezeichneten vegetarisch/veganen Restaurants weltweit. Auch das deutsche Pendant, das TIAN in München, darf sich seit 2019 mit einem Michelin-Stern und zwei Hauben von Gault Millau schmücken.
Nach „die vegetarische Sommerküche“ und „die vegetarische Winterküche“ ist „Restlos glücklich“ das dritte Kochbuch des Sternekochs.
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