Montréal schlägt ein neues Kapitel seiner Architekturgeschichte auf: Die kürzlich eingeweihte, sorgfältig restaurierte Bibliothek Maisonneuve aus dem Jahr 1912 ist mit ihren neuen Glasflügeln eine beispielhafte Erfolgsstory dafür, wie sich Vergangenheit und Gegenwart gegenseitig bereichern. Federführend bei der Renovierung und Erweiterung war das preisgekrönte Architekturbüro EVOQ.
Ganz oben auf der Liste der schönsten Städte Kanadas landet seit Jahren Vancouver. Knapp dahinter platziert sich aber regelmäßig Montréal, die Hauptstadt der Provinz Québec. Der Dank dafür gebührt zum einen den Stadtplanern. Sie haben die Straßen der Metropole in den vergangenen zwei Jahrzehnten sanft und doch radikal in fußgängerfreundliche Flaniermeilen verwandelt. Zum anderen war aber auch die Architektenszene nicht untätig: Im Einklang mit den Werten der City-Beautiful-Bewegung wurden zahlreiche öffentliche Einrichtungen wie Kultur- und Sporteinrichtungen gebaut beziehungsweise umgestaltet.
Transformation findet Stadt
So kann Montréal heute bei Einheimischen wie Touristen mit einer Mischung aus Vierteln, die klassischen Pariser Charme versprühen, und einer typischen nordamerikanischen Wolkenkratzer-Skyline punkten. Und das reiche architektonische Erbe paart sich dabei perfekt mit einer Gestaltung, die den urbanen Herausforderungen der Gegenwart Rechnung trägt. Das neueste Beispiel für diesen Transformationsprozess liefert die Sanierung und Erweiterung der alten Bibliothèque Maisonneuve.
Design und Denkmalschutz
Den altehrwürdigen Büchertempel zu modernisieren und auszubauen, war schon länger dringlich. Eine aufgefrischte Sammlung von mehr als 75.000 Titeln und einem Schwerpunkt auf Jugendliteratur wollte untergebracht sein. 2017 ging die Stadt das Projekt an. Sie stellte für die Bibliothek, die Erneuerung der Gehwege rundherum und die Gestaltung des Place Ernest-Gendreau im Rahmen der „Entente de développement culturel de Montréal“ gut 29 Millionen Euro bereit und lobte einen Designwettbewerb aus.
Den Zuschlag erhielt schließlich ein Konsortium von Montrealer Firmen unter der Leitung von EVOQ Architecture und Dan Hanganu Architects (inzwischen Teil von EVOQ). Eine gute Wahl: Denn das preisgekrönte heimische Architekturbüro EVOQ ist nicht nur für seine zahlreichen Projekte für die Gemeinschaften der Inuit und First Nations bekannt, sondern auch für sein Fachwissen im Bereich Denkmalschutz.
So konnte das Designteam dann auch mit einem Entwurf überzeugen, der dem denkmalgeschützten Gebäude seinen ursprünglichen Glanz zurückgab und es um zwei Glasflügel ergänzte. Die Jury lobte ihn als „einen schönen Tanz zwischen den Epochen, zwischen außen und innen, zwischen aktiv und kontemplativ“. Und die „Fédération des milieux documentaires“, der Verband der Bibliothekare und Archivare von Québec, kürte den Entwurf gar zum Gewinner seines Architekturpreises 2023.
Alter Glanz
In der ersten Bauphase wurden die Steinfassaden und die monumentalen Türen des bestehenden Beaux-Arts-Baus sorgfältig restauriert und die ursprünglichen Stuckleisten, Holzvertäfelungen und Mosaikböden wieder hergestellt. Auch die Marmortreppe des Piano nobile und die beiden imposanten Buntglasfenster konnten erhalten werden.
Die neoklassizistische Kolonnade des historischen Gebäudes gab dann die Ausrichtung der Glasflügel und der neuen Vorhangfassade vor sowie den Rhythmus ihres Brise-Soleil. Wie sehr sich die Architekten dabei mit Fragen des Kulturerbes auseinandersetzten, zeigt auch die Tatsache, dass beim Anbau der Flügel auf beiden Seiten ein raumhoher Hohlraum belassen wurde. Er eröffnet den Blick auf die imposanten Säulen an der einstigen Fassade. Stahlportale und Glasbrücken betonen den Übergang von den lichtdurchfluteten modernen Flügeln zum gedämpfteren Ambiente des ursprünglichen Gebäudes.
Bibliothek 2.0
Die wahren Herausforderungen waren jedoch nicht Sanierung und Anbau. Es galt vielmehr, die Bibliothek neu zu erfinden. Denn der buchzentrierte Archetyp, der die Gestaltung von Lesehallen während der vergangenen Jahrhunderte dominierte, hat inzwischen ausgedient. Längst haben Bibliotheken eine neue Rolle eingenommen – als Begegnungsorte für ihre jeweiligen Gemeinden, als Zentren für (Kultur-)Veranstaltungen und als Räume für Aktivitäten, die mit der Herstellung, der Schaffung und dem Austausch von Wissen verbunden sind.
Die Bibliothek im Bezirk Mercier-Hochelaga-Maisonneuve ist da keine Ausnahme. Und so finden sich heute neben Regalmetern voller Bücher, stillen Lernlounges und einem Medienlabor mit Internetstationen unter anderem auch ein Café, fünf Teamarbeitsräume, ein Animationssaal für Schulgruppen, Spielbereiche für Kinder und ein Mini-Innengarten im Haus an der Ontario Street. Und auf dem öffentlich zugänglichen Dach werden Gemüse und Kräuter angebaut, die an lokale Organisationen gespendet werden.
Platz dafür schuf die Umgestaltung des Gebäudes: Der neue, zum Großteil verglaste Anbau, der die bestehende, alte Bibliothek rechts und links der historischen Fassade ergänzt, vergrößert die Gesamtfläche von 1.240 auf 3.594 Quadratmeter.
Ein Ort für alle
Damit sich die unterschiedlichen Zielgruppen auch schnell zurechtfinden, bietet ein direkt von der Straße aus zugänglicher und barrierefreier Empfangsbereich Orientierungshilfe. Er ist in einem zylinderförmigen Turm mit perforierter Aluminiumfassade untergebracht, der dem neuen Ostflügel vorgelagert ist. Die steinerne Außentreppe vor dem Hauptportal des Bestands dient nun hauptsächlich als Sitzgelegenheit.
Vom Empfangsbereich kommen die kleinsten Besucherinnen und Besucher nach unten in die bunten Spielzimmern, Jugendliche werden in die zweite Ebene geleitet, wo sich zum Beispiel ein Videospielraum befindet. Ruhigere Lese- und Lernbereiche gibt es hingegen in den beiden oberen Etagen der alten Bibliothek und auf dem höchsten Stockwerk des Westflügels.
Einen schönen Blick auf den Pie-IX-Boulevard, benannt nach Papst Pius IX., bietet ein teilweise auskragender „Raum der Stille“, über den man über einen der alten Balkone gelangt. Innen ziehen offene Bücherregale und eine modulare, fast schon wohnzimmerartige Möblierung die Aufmerksamkeit auf sich und machen allen Generationen Lust aufs Schmökern.
LEED-Gold in Aussicht
Dass die Architektur allen Generationen und der Gemeinschaft verpflichtet ist, zeigt sich auch darin, dass sich die Planer – trotz aller Denkmalschutzauflagen – auf die Minimierung des Energieverbrauchs fokussierten. Eine Fußbodenheizung sorgt zwar für ein wohliges Klima. Doch setzte man bei der Deckung des Heiz- und Kühlbedarfs der Bibliothek auf Geothermik und energiesparende Geräte. Das Vorhangfassadensystem – ausgestattet mit integriertem Sonnenschutz und thermischer Verglasung – trägt ebenfalls dazu bei, eine optimale Leistung zu erreichen. Ein Antrag auf eine LEED-Gold-Zertifizierung ist gestellt.
Historische Nachbarschaft
Für eines gibt es jetzt schon Gold: die Integration der Bibliothek Maisonneuve in das historisch bedeutsame Viertel drumherum. So war das Stadtplanungsbüro civiliti damit betraut, eine optische Verbindung zwischen dem Privatgelände der Bibliothek und dem öffentlichen Bereich herzustellen. Eine von vielen Maßnahmen war dabei die Installation einer Skulptur des Künstlers Clément de Gaulejac im Hof. Sie soll an die Historie des Ortes erinnern – und an die illustre Nachbarschaft.
Entlang der Ontario Street sind nämlich noch einige Gebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert erhalten, darunter zum Beispiel der ehemalige Maisonneuve Market, der ebenfalls von der City-Beautiful-Bewegung inspiriert wurde. Auf weitere Baudenkmäler an der Ost-West-Achse durch die Stadt weisen markante Pflasterungen auf den Gehwegen hin und laden dazu ein, sie zu entdecken.
Geschichten treffen auf Geschichte
Auch die Bibliothek Maisonneuve hat vor der Tür längst eine solche Pflasterung erhalten. Denn schon bevor das Gebäude zu einem Hort der Geschichten wurde, war es ein geschichtsträchtiger Ort. Von Cajetan L. Dufort im typischen Beaux-Arts-Stil entworfen, diente der Säulenbau von 1912 bis 1918 zunächst als Rathaus der alten Cité Maisonneuve. Davon zeugt noch heute ein augenfälliges, in den Boden eingelassenes Keramikwappen.
Nach der Eingliederung der Cité Maisonneuve in das Stadtgebiet von Montréal wurde das Rathaus 1925 zum Radiologie-Institut der Universität. Die Sängerin Mary Travers, beliebt und bekannt als „La Bolduc“, verbrachte hier ihre letzten Tage vor ihrem Tod im Jahre 1941. Zur Bibliothek wurde das zwischenzeitlich leerstehende Haus dann 1981. Und spätestens ab diesem Zeitpunkt war es dann auch in jedem guten Montréal-Reiseführer zu finden. Als Sightseeing-Highlight für Architekturfans und als Tipp für Bibliophile.
Nach der Neugestaltung durch EVOQ dürfte die Bibliothek Maisonneuve jetzt in vielen City-Guides noch ein paar Plätze weiter nach oben gerutscht sein auf der Liste der Sehenswürdigkeiten. Und wer weiß: Vielleicht schafft es Montréal auch eines Tages, Vancouver von seiner Top-Position der sehenswertesten Städte Kanadas zu verdrängen. Projekte wie dieses tragen jedenfalls dazu bei …
Text: Daniela Schuster
Bilder: Adrien Williams / v2com
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