Mario Pricken weiß, was wertvoll ist und vor allem, warum es das ist. The Stylemate sprach mit ihm über den Wert von Objekten, gute Geschichten und die Veränderung des Wertekompass durch die Coronakrise.
Interview: Nina Prehofer
Was ist das wertvollste Objekt, das Sie besitzen?
Mario Pricken: Das ist eine Fender Stratocaster aus dem Jahr 1967. Hier geht es weniger um den Marktwert dieser Gitarre als um den persönlichen Wert, und dieser ist sehr hoch, denn die Gitarre habe ich von meinem Vater bekommen. Diese Frage ist gut, denn sie zeigt sehr deutlich, was Wert sein kann. Da gibt es den persönlichen Wert, den Marktwert und noch eine weitere Ebene, denn wäre die Gitarre von einem berühmten Musiker, würde sie noch mal an Wert gewinnen.
Was entflammt unser Begehren nach bestimmten Objekten?
Mario Pricken: Wenn Objekte eine Geschichte haben. Wir sind süchtig nach Geschichten! Eine außergewöhnliche Geschichte verändert unseren Blick auf ein Objekt total. Auch ich höre gerne die Geschichte eines Objekts und beobachte mich dabei, wie sich das Objekt in meinen Augen, in meiner Wahrnehmung durch die Geschichte mitverändert.
Da passiert Magie.
Sie sagen, Objekte, die begehrt werden, sind eigentlich Geschichten – verkleidet als Objekte. Was ist aktuell die beste Geschichte, die erzählt wird?
Mario Pricken: Ich weiß nicht, ob das die beste Geschichte ist, aber wer das Geschichtenerzählen meiner Meinung nach sehr professionell macht, ist Elon Musk mit Tesla. Vor einiger Zeit habe ich gelesen, und das ist wahrscheinlich nicht wahr, sondern eine Übertreibung, dass das Marketingbudget von Tesla angeblich nur 2000 Dollar ausmachte. Wie kann man eine Weltmarke mit nur 2000 Dollar etablieren? Das geht nur durch die Abweichung von der Norm und mit extrem spannenden Geschichten.
Was bedeutet es, von der Norm abzuweichen?
Abweichen von der Norm heißt das tun, was andere nicht machen, Mut zu beweisen, es in eine erzählerische Form zu bringen und, am allerwichtigsten, es geht dabei immer darum, an der Spitze zu sein.
Mario Pricken
Bin ich der Erste, bin ich ganz vorne, toppe ich alles? Das ist so wie die Erstbesteigung eines Berges. Wir wissen alle, wer den Mount Everest als Erstes bestiegen hat, aber kaum einer weiß, wer die Nummer zwei war.
Warum merkt man sich ausgerechnet das?
MP: Weil es eine einzigartige Leistung ist, Pionier zu sein. Natürlich werden Geschichten über die Jahre verklärt und ausgeschmückt, aber dadurch werden sie mythisch. Das sind dann zum Beispiel die Gründungsmythen von Unternehmen, die erzählt werden.
Was war die skurrilste Geschichte, die Sie je über ein Objekt gehört haben, die aber genau jenen Mythos ausmachte?
MP: Es gibt eine Geschichte, an die ich immer wieder denke, sie bezieht sich weniger auf ein Produkt als auf ein Geschehnis. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs waren zwei Bomber unterwegs, die über Grönland geflogen sind. Sie sind in ein Unwetter geraten und mussten notlanden. Alles hat problemlos funktioniert und sie waren unversehrt, dennoch wurden sie abgeholt und die Bomber in Grönland stehen gelassen. Viele Jahre hat es auf die Maschinen geschneit und sie sind immer weiter im Schnee und Eis versunken. Dann hat irgendjemand von der Geschichte gehört und die Maschinen lokalisiert. Sie waren 20 Meter unter dem Eis. Mit Warmwasser wurden sie ausgespült und waren völlig intakt. Mithilfe einer Mannschaft wurde eine der Maschinen in Teile zerlegt, raufgeholt und nach England gebracht. Dort kam sie wieder zum Einsatz. Eine faszinierende Geschichte. Aber vielleicht nur für Männer.
Eine Geschichte, die sich Hollywood zum Vorbild nehmen könnte.
MP: Der Plot in Filmen ist im Kern das, was uns am stärksten im Inneren antriggert. Überraschung, Verblüffung, Neugierde. Eine gute Geschichte rund um ein Produkt basiert genau auf den gleichen Dingen. Ein Hotel wird vielleicht dann berühmt oder ragt heraus, wenn sich darin etwas Geschichtsträchtiges ereignet hat, oder etwas Legendäres, Verblüffendes, Skandalöses. Geheimtreffen von Politikern vielleicht, die in dem Hotel einen Vertrag geschlossen haben, um einen Feind zu besiegen.
Von so einer Geschichte kommt man nicht mehr los.
Wie kann ich einem neuen Hotel eine Biografie verpassen, um auf Anhieb ein Ort zu werden wie The Gritti Palace, ein Bellagio oder Hotel du Cap-Eden-Roc? Muss diese Biografie wirklich gewachsen sein?
MP: Das ist eine interessante Frage, die Sie da stellen. Zu diesem Thema würde ich sagen: Finger weg von allem, was nicht authentisch ist. Irgendwelche Geschichten zu konstruieren, wie in der Werbung, und sich eine Masche umzubinden, das geht nicht. Da fällt mir der Spruch von Obama ein, der bei einer Wahlrede meinte: Ein Schwein, dem man Lippenstift aufträgt, ist immer noch ein Schwein. Vor allem sollte man sich tunlichst davor hüten, Geschichten zu erzählen, die nicht stimmen. Wir leben in einem Zeitalter der Transparenz und man kann sich nicht mehr verstecken. Das musste auch die Modeindustrie lernen. In Indonesien billig zu produzieren und dann das Produkt als Luxusartikel zu deklarieren, funktioniert einfach nicht mehr.
In Ihrem Buch „Die Aura des Wertvollen“ beschreiben Sie 80 Wertparameter, die man bei „wertvollen“ Dingen festmachen kann. Wie kann ich die Wert-DNA eines Produktes bestimmen?
MP: Für mein Buch habe ich mir fast 300 Objekte angesehen und sie analysiert. Ich habe sie sozusagen dazu befragt, was sie wertvoll macht. Dazu habe ich mir ihre ganze Biografie angesehen.
Jedes Objekt hat eine, und die beginnt bei der Rohstoffgewinnung und endet beim Recycling oder Vererben. Beim Betrachten tauchen an mehreren Punkten in der Biografie Ereignisse auf, die sie einzigartig und besonders machen. Diese 80 Wertparameter treten natürlich nicht in jedem Objekt auf, aber so zwischen sechs und 15 davon.
Was ist dabei auffallend?
MP: Wenn man sich Objekte ansieht, die so außergewöhnlich sind und so hohes Begehren auslösen, dann ist das Entscheidende nicht, dass man den Parameter an sich hat, zum Beispiel, das rare Materialien verwendet wurden, darum geht es nicht, sondern man muss damit an der Spitze sein. Man muss der Erste sein, man muss ganz vorne sein. Man muss der sein, der es in einer Form gemacht hat, bei der niemand mithalten kann. Wenn ich das schaffe, bin ich herausragend und mit Wert aufgeladen.
Das hört sich nicht so einfach an. Können Sie ein Beispiel nennen?
MP: Aston Martin ist das sehr gut gelungen. Ich glaube, es war 2008 mitten im Krisenjahr. Da waren sie bereits in Produktion mit ihrem Aston Martin 177. Diese Zahl bedeutete, dass es nur 177 Stück von dem Wagen geben würde. Das Modell war bereits ausverkauft, bevor sie mit der Produktion fertig waren. Was es von anderen Objekten am Markt unterschieden hat, war: In dem Moment, in dem man das Auto gekauft hat, ist es bereits an Wert gestiegen. Es wurde noch wertvoller. Hier wurde systematisch Wert geschaffen. Mit einer Geschichte.
Wie hat sich der Wertekompass durch die Coronakrise verändert?
MP: Mein persönlicher Zugang ist der, dass die Krise ja nur in den Büchern stattfindet. Mit Büchern meine ich Buchhaltung. Die Leute gehen allmählich ins Bargeld, Assets werden verkauft, Gold wird verkauft. Wenn sie auf die Straße hinausgehen, sehen Sie die Krise ja noch gar nicht. Die Fassade funktioniert noch. Aber dahinter wird es morsch. Ich vermute, dass es ab jetzt, also im Herbst, deutlich sichtbarer werden wird bis ins nächste Jahr hinein. Ich glaube, dass es einen Wandel gibt und der wird in die Richtung gehen, dass die Gesellschaft konservativer werden wird.
Man wird sich wieder mehr auf alte Werte besinnen und alles, was die Gesellschaft bisher getrieben hat, wird vielleicht ein Stück hinterfragt werden.
Was bedeutet das für das Reisen?
MP: Ich denke, dass dieses endlose Konsumieren aufhören wird, allgemein in der Luxusbranche. Reisen wurden zunehmend eine schnelle Aneinanderreihung von Erlebnissen. Es genügte nicht, an einen Ort zu fahren, nämlich Venedig, und fünf Tage dort zu bleiben und es mit allen Sinnen zu erleben und zu genießen. Sondern es musste eine Italienrundreise sein, am besten 16 Städte in acht Tagen, überall kurz durchrennen, Selfies und Fotos machen, Souvenirs schnappen und so viel wie möglich konsumieren. Das wird sich ändern. Man wird sich wieder mehr auf die Qualität des Erlebens besinnen und nicht auf die Menge.
Wird es allgemein einen Schwenk weg von Objekten hin zu Erlebnissen geben?
MP: Es gibt diesen schönen Spruch: Das letzte Hemd hat keine Taschen. Wenn man an ein Leben danach glaubt, dann könnte man nur mitnehmen, wie ich als Person durch das Erlebte gewachsen bin. Wenn nicht, dann hat man sein Leben wenigstens gut genutzt.
Erlebnis schlägt Objekt – das kann ich mir für die Zukunft sehr gut vorstellen.
Mario Pricken zählt zu den international gefragtesten Experten, wenn es um die Themen Kreativität und Ideenmanagement sowie Strategieentwicklung und Innovation geht. Gemeinsam mit Europas größter Forschungseinrichtung, der Fraunhofer-Gesellschaft Deutschland, entwickelte Mario Pricken in den letzten Jahren neue Innovationsprozesse für Forscher und Ingenieure und unterrichtete zusätzlich als Universitätslektor an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Als Innovation Director arbeitet er mit internationalen Unternehmen, namhaften Agenturen, Designfirmen und Fernsehstationen. 2014 erschien – nach zahlreichen anderen Werken – das Buch: „Die Aura des Wertvollen – Produkte entstehen in Unternehmen, Werte im Kopf“.
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