LOST CITY ein Essay von Franzobel

Franzobel, Foto: Lukas Beck

Man muss nicht nach Papua-Neuguinea oder Feuerland, um ein Abenteuer zu erleben

– manchmal genügt ein Einkauf beim Greißler um die Ecke, und oft ist bereits das Finden des nächsten Krämers eine Challenge.

Zu Silvester macht meine Freundin immer eine Art Bleigießen mit Papier: Man zieh aus einem Zettelkasten ein Wort, das einem verrät, was das neue Jahr denn bringt. Bei mir kam „Erobern“ raus. Nun arbeite ich momentan tatsächlich an einem Roman über die spanischen Konquistadoren des 16. Jahrhunderts. Mutige Männer, die ihre Heimat und Familie aufgegeben haben, um Neues zu entdecken. Fremde Länder, Völker, Schätze, deren Aneignung und Vernichtung unter dem Deckmantel der Missionierung meist ziemlich brutal verliefen. Die Abenteuerlust dieser Leute endete nicht selten in einem Gemetzel. Und die Kriegsstrategie der Spanier, mit der 200 Soldaten Heere mit 100.000 Kriegern besiegten, war so einfach wie unmoralisch: Lüge, Heimtücke und Hinterlist.

Bevor man heute eine Reise tut, lässt man sich gegen alles Mögliche impfen, was oft teurer als die Flugtickets kommt, schließt eine Reiseversicherung ab und deckt sich mit Moskitosprays und Kleidung ein, die den IQ eines Hochbegabten hat. Außerdem weiß man, dass es kaum noch Orte auf der Welt gibt, wo man nicht jederzeit über irgendeine App seine Urlaubsbilder ins Netz stellen oder eine Fusion-Pizza mit Ceviche und Caipirinha bestellen kann. Die Möglichkeiten, heutzutage noch ein Abenteuer zu erleben, sind meist auf geführte Touren begrenzt. Unvorstellbar, dass noch vor 20 Jahren telefonieren unerschwinglich war und es bereits am Mittelmeer heimische Zeitungen allenfalls mit zweiwöchiger Verspätung gab.

Aber was ist ein Abenteuer?

Manche reisen zweimal um die Welt und kommen dann völlig unverändert mit derselben engen Weltsicht zurück, während andere ihr Zimmer nicht verlassen und Unwahrscheinliches erleben. Es geht um Neugier und Offenheit, darum, Erweiterungen des Geistes zuzulassen. Viele sehen, manche beobachten, aber nur wenige erkennen. Man muss nicht nach Papua-Neuguinea oder Feuerland, um ein Abenteuer zu erleben – manchmal genügt ein Einkauf beim Greißler um die Ecke, und oft ist bereits das Finden des nächsten Krämers eine Challenge.

In Spanien nennt man die Konquistadoren nicht „Eroberer“, sondern euphemistisch „Entdecker“ oder gar „freundschaftliche Völkerverständiger“. Bereits die Fahrt in einer nussschalenartigen Karavelle über den Atlantik muss ungeheuerlich gewesen sein. Die Pferde etwa hingen im Zwischendeck in strampelhosenartigen Vorrichtungen. Kein frisches Wasser, keine Toiletten und Ärzte mit einer Vorliebe fürs Amputieren. Und dann monatelange Märsche in einem unbekannten Land mit wilden Tieren und Eingeborenen, die ihnen bald nicht mehr wohlgesonnen waren. Tropische Krankheiten, unvorstellbare Strapazen, schlechte Verpflegung, um vielleicht das Glück zu haben, auf Kulturen zu treffen, die den „Söhnen der Sonne“ Gold und Perlen schenkten.

Es liegt in der Natur des Menschen, Grenzen zu überschreiten, etwas Neues zu erkunden – wahrscheinlich so lange, bis wir an die Ränder des Universums stoßen. Aber bei manchen Abenteuern reicht es, wenn wir darüber lesen – selbst dann, wenn „Erobern“ aus dem Zettelkasten für das neue Jahr gezogen wird. Wenn Sie hier aber doch den Tipp für ein Abenteuer erwartet haben, empfehle ich Ihnen die viertägige Wanderung von Santa Marta zur Cuidad Perdida in einem kolumbianischen Indianerreservat – anstrengend, aber wunderbar, weil ein paar Lost Citys und Abenteuer gibt es dann ja doch noch.

Und kommen Sie wieder gut zurück!


Franzobel ist ein österreichischer Schriftsteller. Er veröffentlichte zahlreiche Theaterstücke, Prosa und Lyrik. Seine Theaterstücke wurden unter anderem in Mexiko, Argentinien, Chile, Dänemark, Frankreich, Polen, Rumänien, der Ukraine, Italien, Russland und den USA gezeigt.

Sein großer historischer Abenteuerroman „Das Floß der Medusa“ (Zsolnay Verlag) wurde mit dem Bayerischen Buchpreis 2017 ausgezeichnet und stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2017