Ken Mogi weiß, was glücklich macht. Nach seinem Weltbestseller „Ikigai“ hat der in Tokio lebende Schriftsteller mit „Nagomi“ nun ein Buch über den japanischen Weg zu Harmonie und Lebensfreude geschrieben. Im Interview verrät der Rockstar unter den Neurowissenschaftlern, warum wir gerade jetzt auf das ostasiatische Lebenskonzept setzen sollten, wie wir für mehr Wohlbefinden im Alltag sorgen können und was sogar ihn aus dem Gleichgewicht bringt.
Interview: Nora Palzenberger
Was seit Jahrhunderten tief in der japanischen Kultur verankert und für die Menschen, die damit aufgewachsen sind, selbstverständlich ist, ist für uns auf den ersten Blick nur schwer begreiflich. Bitte erklären Sie uns in drei Sätzen, was Japaner unter Nagomi verstehen.
Nagomi ist ein sehr altes japanisches Wort, das einen Zustand von Balance, Harmonie und Wohlbefinden beschreibt und in der japanischen Lebensphilosophie als ein Ideal angesehen wird. Nagomi ist die Mutter wichtiger japanischer Werte wie Ikigai, Kintsugi, Mono no aware und Ichi-go ichi-e. Es ist das Herzstück der japanischen Lebenseinstellung und das am besten gehütete Geheimnis dessen, was Japan ausmacht.
Ist es dann überhaupt möglich, das Konzept auf andere Kulturen zu übertragen?
Aber natürlich! Letztendlich sind wir alle Menschen, unabhängig von unserer kulturellen oder historischen Herkunft. Nagomi ist ein zentraler und universeller menschlicher Wert.
Wie sind Sie dazu gekommen, japanische Lebenskonzepte in die Welt hinauszutragen?
Als jemand, der im modernen Japan aufgewachsen ist, habe ich viele wertvolle Dinge von der westlichen Kultur gelernt – Goethe und Nietzsche waren im Gymnasium meine Lieblingsautoren. Ich dachte, es wäre vielleicht an der Zeit, der Welt etwas ebenso Wertvolles zurückzugeben, indem ich über das, was für mich der Juwel in der Krone der japanischen Kultur ist, erzähle.
Nagomi steht für Balance und Wohlbefinden. Wann haben Sie sich zuletzt ganz im Einklang mit sich selbst und der Welt gefühlt?
Als Wissenschaftler, Autor und Broadcaster habe ich einen vollen Terminplan und verbringe, so wie viele Menschen heute, viel Zeit vor dem Bildschirm. Aber wenn ich in Tokio laufen gehe, wenn ich durch einen grünen Park spaziere, dann finde ich Nagomi. Ich glaube, rauszugehen und trotz hektischen Zeitplans in Balance mit unserer großartigen Natur zu kommen, wäre ein wunderbares Rezept für Nagomi.
Und was hat Sie kürzlich aus dem Gleichgewicht gebracht?
Manchmal habe ich zu viel zu tun, ich versuche zu viele Dinge in ein begrenztes Zeitfenster zu packen. Dann verliere ich mein Nagomi.
Was tun Sie dann, um wieder in Balance zu kommen?
Ich versuche meinen Kopf frei zu bekommen, indem ich entweder laufen oder spazieren gehe oder einen kurzen Powernap einlege, um mein Nagomi wiederzuerlangen. Dabei unterstützt mich das sogenannte Ruhezustandsnetzwerk meines Gehirns – ein großartiges Nagomi-Netzwerk.
Nagomi kann auch als Geisteszustand wahrgenommen werden. Was fühlen Sie, wenn Sie sich „nagomi“ fühlen?
Man fühlt, dass alles an seinem Platz ist, die unterschiedlichsten Elemente im Leben, alles koexistiert in Harmonie. So gesehen ähnelt es der Achtsamkeit, einem anderen Konzept, das ursprünglich aus dem japanischen Zen-Buddhismus stammt. Nagomi entspricht in vielerlei Hinsicht dem deutschen Konzept von Gemütlichkeit.
Drei Tipps, wie wir Nagomi ganz einfach in unser Leben integrieren können?
Erstens: Wenn Sie ein bestimmtes Ziel verfolgen, versuchen Sie eine komplett andere Richtung einzuschlagen, um neue Ideen zu bekommen. Zweitens: Versuchen Sie, Ihren Feind zu lieben. Oder versuchen Sie zumindest, einen Zustand von Nagomi mit Ihrem Gegenüber zu erlangen. Drittens: Seien Sie Sie selbst, und dann erweitern Sie Ihr Selbstsein, indem Sie neue Dinge dazulernen.
Und was sollen Ihre Leser nach Lektüre des Buches zuerst tun?
Ich würde mir wünschen, dass sie erst einmal eine Bestandsaufnahme machen, sich entspannen und erkennen, dass Erfolg keine unbedingt notwendige Voraussetzung für Glück ist. Sie können Nagomi auch erreichen, wenn Sie Fehler machen, Schwächen haben und, vielleicht noch wichtiger, die Defizite der Menschen um Sie herum akzeptieren.
Klimakrise, Inflation, Krieg: Warum ist gerade jetzt ein guter Zeitpunkt für ein Buch wie „Nagomi“?
Nagomi hätte enorme Auswirkungen auf die heutige Welt, weil es die derzeitigen Herausforderungen notwendig machen, eine Balance zwischen den unterschiedlichen Elementen herzustellen. Bei der Klimakrise bräuchten wir Nagomi beispielsweise zwischen menschlichen Aktivitäten und der Ökologie. Um der Inflation entgegenzuwirken, bräuchten wir Nagomi zwischen Angebot und Nachfrage. Und so schwierig es auch sein mag – wir müssen Nagomi zwischen der Ukraine und Russland anstreben, um dauerhaften Frieden zu erzielen. Bei Nagomi geht es nicht um richtig oder falsch. Es geht darum, Vielfalt anzuerkennen, unabhängig davon, ob die eine Seite im Recht ist und die andere im Unrecht.
Was macht Ihnen Hoffnung?
Dass wir alle menschlich sind und Träume aus Nagomi gemacht sind.
Über den Autor
KEN MOGI ist Neurowissenschaftler und Schriftsteller. 1962 in Tokio geboren, studiert er Natur- und Rechtswissenschaften in Tokio und Cambridge und ist 2012 der erste Japaner, der auf der TED-Hauptbühne einen Vortrag hält. Mogi lehrt an Universitäten und veröffentlicht Texte zu den Themen Kognition und Hirnforschung sowie Romane, Essaybände und populärwissenschaftliche Sachbücher. „Ikigai: Die japanische Lebenskunst“ erscheint 2019 und avanciert in vielen Ländern zum Bestseller. 2022 folgt „Nagomi: Der japanische Weg zu Harmonie und Lebensfreude“. Ken Mogi lebt in Tokio.
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