Campingplatz war gestern. In den Wäldern eines kanadischen Unesco-Biosphärenreservats übernachten die Gäste des Territoire Charlevoix in gemütlichen Holzhäusern, die das Atelier L’Abri auf Pfähle gesetzt hat.
Es ist eine einzigartige Landschaft, die sich Besuchern zwischen La Malbaie und Baie-Saint-Paul eröffnet. In der kanadischen Region Charlesvoix, etwa 80 Kilometer östlich von Québec am Nordufer des Sankt-Lorenz-Stroms gelegen, treffen Wattlandschaften und Sümpfe auf Gebirgstundren und ausgedehnte Misch- und Nadelwälder. Auch geologisch ist das Gebiet außergewöhnlich, schlug hier doch vor etwa 350 Millionen Jahren ein Asteroid ein, der 15 Milliarden Tonnen wog und einen riesigen Krater hinterließ.
Luft wie Champagner
Es verwundert daher nicht, dass das abgeschiedene Gebiet im Landesinnern von der Unesco bereits 1988 zum Biosphärenreservat erklärt wurde. In kaum einem anderen Biosphärenreservat leben so viele Tierarten wie in Charlevoix. Die Könige der regionalen Fauna sind Hirsche. Und: Meeressäuger. Die Mündung des Saguenay-Fjords ist bekannt für unvergessliche Walbeobachtungen.
Schon vor über 200 Jahren war die Gegend ein Tourismus-Hotspot. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Region dann so beliebt, dass in Pointe-au-Pic ein Luxushotel mit 250 Zimmern errichtet wurde, das Manoir Richelieu. Damals reisten die Besucher auf Dampfschiffen an, die schwimmenden Palästen glichen. Die High Society traf sich hier zur Sommerfrische. Howard Taft, 27. Präsident der Vereinigten Staaten, soll einmal gesagt haben, die Luft von Murray Bay – so hieß La Malbaie zu seiner Zeit – berausche „wie Champagner, jedoch ohne die Kopfschmerzen am nächsten Morgen“.
Schlanke Beine, kleiner Fußabdruck
Damit aber auch die Auswirkungen der Besucherströme nicht für Kopfschmerzen sorgen, müssen insbesondere neue touristische Angebote mit Bedacht geplant und entwickelt werden. In La Malbaie ist dies in besonderem Maße gelungen. Denn dort hat das Atelier L’Abri für das Territoire Charlevoix Übernachtungsmöglichkeiten in den dichten Wäldern entworfen, die die sensible Natur möglichst wenig in Mitleidenschaft ziehen.
Zum Schutz des Waldbodens haben die Planer die fünf neuen Holzhäuser auf Pfähle gesetzt. Das Fehlen traditioneller Fundamente machte zudem den Einsatz schwerer Maschinen überflüssig und begrenzte auch die Abholzung, die sonst für die Errichtung der Unterkünfte nötig geworden wäre. Dass die Gäste aufgrund der Bauweise nun auch einen Panoramablick über die Wildnis genießen, ist ein zusätzlicher Bonus.
Die Landschaft im Fokus
Die Pultdächer der kleinen, autonomen Pfahlbauten folgen der natürlichen Topographie des hügeligen Geländes. Gleichzeitig erinnert die kühne Form der großen Gauben an alte Kameras. Wie die optischen Geräte laufen die Prismen der kleinen Häuser auf eine große Öffnung zu. Die Glasfronten, die sich über die gesamte Breite des Innenraums erstrecken, neigen sich leicht zu den darunter liegenden Tälern hin und nehmen die Landschaft in den Fokus. Die Fotomotive für die kommenden Tage? Hat man stets im Blick.
Wann die beste Zeit ist, um den Auslöser zu betätigen, erfährt der Besucher auch gleich noch – der sorgfältig gewählten Lage und Ausrichtung der Hütten sei Dank. Auf der einen Seite des Grundstücks sind die Panoramafenster zum Sonnenaufgang, auf der anderen Seite zum Sonnenuntergang gewandt.
Draußen leben, drinnen entspannen
Die fünf neuen Schutzhütten ermöglichen Besuchern sowohl im Sommer als auch im Winter eine gemütliche Auszeit. Bei schönem Wetter laden die Hütten dazu ein, das Leben nach draußen zu verlagern. Zu jeder Unterkunft gehört ein überdachter Essbereich im Freien, die Terrassen grenzen an den Innenraum an. Der Außenbereich wird zudem durch einen Feuerkreis, einen Holzunterstand und eine Trockentoilette aus Holz vervollständigt.
Und bei schlechter Witterung? Zieht man sich mit einem guten Buch in die gemütlich-warme Hütte zurück wie in einen Kokon. Denn so kompakt ihr Grundriss auch immer sein mag, so komfortabel ist doch die Innenausstattung der Unterkünfte.
Kompakt, aber komfortabel
Jede Unterkunft ist mit einer Küchenzeile, einem Esstisch, einem Holzofen und einem großzügigen Doppelbett direkt vor dem Erkerfenster ausgestattet. Eine Reihe von integrierten Möbelmodulen maximiert die Raumnutzung. Höhenunterschiede im Boden geben dem Innenbereich eine Hierarchie: Sie schaffen eine Trennung zwischen dem Arbeitsbereich der Küche und der Ruhezone, ohne den Grundriss zu überladen. Die Sitzgelegenheiten sind ebenfalls in die wechselnden Ebenen des Bodens integriert. Bei Bedarf kann auch eine Matratze für eine dritte Person in einer der Vertiefungen ausgelegt werden. Weiße Holzverkleidungen an den Wänden bilden einen schönen Kontrast zu den rustikalen und natürlichen Oberflächen der Möbel, die mit der Umgebung harmonieren.
War’s Donald Judd?
Die Verwendung von sparsamen und standardisierten Materialien wie Sperrholz schonte das Budget, ohne dass bei der Ästhetik Abstriche gemacht werden mussten. Die einfachen und zweckmäßigen Möbelmodule sind vom Minimalismus inspiriert, der sich Mitte der 1960er-Jahre in New York entwickelte, und erinnern an die Werke eines seiner Hauptvertreter. Fast möchte man glauben, der US-amerikanische Maler, Bildhauer und Architekt Donald Judd habe das Territoire Charlevoix höchstselbst entworfen.
Ökologisch und innovativ
Tatsächlich stammen die Holzhütten jedoch – wie bereits erwähnt – aus der Feder des preisgekrönten Architektur- und Bauunternehmens Atelier L’Abri mit Sitz in Montreal. Dass sich die Auftraggeber bei der Planung für das Atelier L’Abri entschieden haben, kommt nicht von ungefähr. Ist es doch auf ökologisches, gesundes und nachhaltiges Bauen spezialisiert.
Das Territoire Charlevoix ist neben den Unterkünften im Parc du Poisson Blanc im Outaouais und den Einrichtungen des Bauernhofs Farouche Tremblant der dritte vom Atelier L’Abri entworfene Ökotourismusstandort. Den Bau übernahm das Familienunternehmen Construction Éclair.
Kleine Fluchten
Im Territoire Charlevoix nimmt die Architektur ihre wesentlichen Funktionen wieder auf: Sie bietet Besuchern des Biosphärenreservats in erster Linie Schutz vor den Elementen. Gleichzeitig werden „die kleinen, einsamen Strukturen im Wald zu Vehikeln, um das lebenswichtige Bedürfnis nach einer kleinen Flucht aus der Zivilisation zu erleben“, erklären die Planer Pia Hocheneder, Jérôme Codère, Francis Martel-Labrecque und Nicolas Lapierre. „Die einfachen, mit beschränkten Mitteln errichteten Bauten bringen uns zum Kern zurück. Sie bieten eine einmalige Gelegenheit, uns wieder mit uns selbst und der Natur zu verbinden.“
Zelten mit Panoramablick
Apropos Verbindung mit der Natur: Neben den Schutzhütten bietet das Territoire Charlevoix auch die Möglichkeit zu campen. Hierfür wurden vom Atelier L’Abri so genannte Archipelagos geschaffen, kleine Gruppen von isoliert stehenden Holzplattformen, auf denen sich das Zelt unterm Sternenhimmel aufschlagen lässt. Den Panoramablick, den Camper beim Zelten im Wald sonst missen müssen, gibt es inklusive. Die Inseln sind um eine Panoramahütte am Berghang gruppiert, die den Gästen bei Bedarf einen geschützten Rückzugsort bietet – und eine gemeinsame Kochnische. Geselligkeit und Gemeinschaftsgeist kommen also auch in der weitläufigen Wildnis der Wälder nicht zu kurz.
Einsam oder doch gemeinsam?
Wem der Sinn nach noch mehr Austausch steht, besucht einfach das Empfangsgebäude des Territoire Charlevoix. Es dient als Basislager für Camper, Wanderer und andere Besucher, die an den angebotenen Outdoor-Aktivitäten teilnehmen möchten. Das Gebäude ist durch einen zentralen Durchbruch in zwei Teile geteilt, die zur Landschaft hin ausgerichtet sind. Auf der Empfangsseite befindet sich das „Oui Oui“-Waldbüfett. Das gastronomische Angebot kann entweder im warmen Ambiente des Speisesaals oder draußen auf der langen Terrasse genossen werden. Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich ein Sanitärgebäude mit Duschen und Toiletten.
Perfekte Harmonie im Territoire Charlevoix
Ob Campingplattform, Holzhütte oder Besucherzentrum: Die Entwerfer haben sich für eine innovative Architekturlösung eingesetzt, die nicht nur das Wohlbefinden der Bewohner in den Vordergrund stellt, sondern auch das Verhältnis zum Bauen überdenkt. Die einzigartige Landschaft inspirierte die Planer dazu, „eine architektonische Antwort zu entwickeln, die stark von ihrem Kontext beeinflusst ist und sich in perfekter Harmonie in ihre natürliche Umgebung einfügt. Das Projekt Territoire Charlevoix ist Teil einer tiefgreifenden und sich ständig weiterentwickelnden Reflexion über unsere Beziehung zum Territorium und die Art und Weise, wie wir es bewohnen“, so das Team vom Atelier Atelier L’Abri.
Entstanden ist eine Reihe von Strukturen, die einfach und doch vielfältig sind, vertraut wirken, aber trotzdem überraschen. Die minimalistisch gestalteten, rustikalen und mit begrenzten Mitteln errichteten Bauten bieten Besuchern die Möglichkeit, die Designkonzepte der Einfachheit, des Minimalismus und der Effizienz im Dienste der Naturerfahrung zu erforschen.
Das Projekt Territoire Charlevoix ist Teil einer tiefgreifenden und sich ständig weiterentwickelnden Reflexion über unsere Beziehung zum Territorium und die Art und Weise, wie wir es bewohnen.
Die Planer vom Atelier L’Abri
Vom Camping zum Eco-Glamping
Howard Taft hätten die Holzkonstruktionen sicher gefallen. Denn sie sind wie der Kaviar zur champagnerprickelnden Luft der Region Charlevoix. Und auch, wenn es inzwischen viele gelungene Beispiele für Glamping-Erlebnisse gibt – nicht zuletzt die Himmelchalets am Fuß des Vorarlberger Rätikon –, setzt das Territoire Charlevoix doch neue Maßstäbe. Denn es verbindet Camping nicht nur mit Komfort und Glamour, sondern auch mit Umweltschutz und Sustainabilty.
Man könnte es auch Eco-Glamping nennen.
Text: Daniela Schuster
Bilder: Raphaël Thibodeau
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