Der Fährmann: Ein Essay von Franzobel

Der Fährmann

Wie soll man richtig leben? Alle wollen König sein – ausgeglichen, gelassen und entspannt. Aber geht das? Die Welt ist voller Mäuse und Kröten, die an Wurzeln nagen oder Brunnen zum Versiegen bringen. Unsere Gesellschaft basiert auf Leistung. Wer nichts arbeitet, ist auch nichts wert. Dazu die lästigen Anfechtungen der Warenwelt. Was muss man doch nicht alles besitzen, um als erfolgreich und glücklich zu gelten. Würde eine gute Fee erscheinen und die Erfüllung dreier Wünsche offerieren, könnten sich die wenigsten entscheiden. Dazu die dauernden angstmachenden Nachrichten: Corona, Krieg, Klimakatastrophe. Das Leben ist nicht leicht. Wie viel Energie alleine aufgewendet wird, um den besten Energieanbieter zu finden.

Aber waren Sie schon einmal Beifahrer von einem Führerscheinneuling? Vielleicht sogar vom eigenen Nachwuchs, der sich nichts sagen lässt? Ich hatte kürzlich das Vergnügen, das keines war. Nicht, dass mein Sohn schlecht gefahren oder es zu brenzligen Situationen gekommen wäre, aber für mich war jede Gestalt am Straßenrand eine potenzielle Bedrohung, weil sie unvermittelt auf die Fahrbahn hätte springen können. Der Gegenverkehr stellte eine gefährliche Kohorte von feindlichen Variablen dar, und bei jedem aus einer Quergasse auftauchenden Gefährt bin ich tausend Tode gestorben und auf die nicht vorhandene Bremse getreten.

Als Elternteil versucht man seinen Sprösslingen die wichtigsten Lebensregeln mitzugeben, damit sie später sicher durch ihr Dasein navigieren und nicht vom Kurs abkommen: keine Süßigkeiten nach dem Zähneputzen, nicht fernsehen vor dem Frühstück, Armen und Schwachen helfen, keine Tiere quälen. Irgendwann stellt man erschrocken fest, dass man sich wie die eigenen Altvorderen anhört. Auch Kinder begreifen bald, dass Drohungen wie Wenn-du-jetzt-nicht-sofort-kommst-fahren-wir-ohne-dich-nach-Hause niemals umgesetzt werden.

Der Fährmann

Will man entspannt bleiben, muss man loslassen können, und das ist nicht immer leicht. Im Märchen „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ gibt es einen Fährmann, der sich nichts sehnlicher wünscht, als nicht mehr Fährmann zu sein. Er hat genug vom Hin und Her, genug vom dauernden Ablegen, Übersetzen, der Verantwortung, Leute auf die andere Seite bringen zu müssen. Es dauert, bis ihm der Jüngling mit der Glückshaut offenbart, dass er seine Ruderstange einfach dem nächsten Passagier übergeben kann. Was einfach klingt, ist in der Praxis hart, haben wir doch alle Angst vor Verdrängung und Vergänglichkeit. Die drei goldenen Haare am Kopf des Teufels stehen vielleicht für Erkenntnis, Wissen, Freiheit.

Man ersehnt sich Harmonie, doch nichts ist makellos.

Franzobel

Nein, es gibt keinen richtigen Weg, der zwangsläufig zu einem geglückten Leben führt. Jeder Mensch ist anders. Aber wir leben in einer Zeit, in der jeder König und somit imstande ist, sich aus dem Überangebot an Fährmännern den herauszupicken, der ihm hilft. Was dem einen die Psychoanalyse, ist dem nächsten die Bibel, anderen der Knigge oder der Buddhismus. Nagomi kannte ich nicht, aber es klingt vielversprechend, gefällt mir doch auch Wabi-Sabi – die Kunst, Fehler zu mögen.

Man ersehnt sich Harmonie, doch nichts ist makellos. Wie für jeden Fährmann geht es auch im Leben immer vorwärts und zurück. Man will den Kurs halten, hat aber mit Strömungen, Untiefen und Strudeln zu kämpfen. Trotzdem muss man über das Gewässer, bis irgendwann die Ruderstange an den Nächsten geht, einem nur die Hoffnung bleibt, dass alles gutgegangen ist. Das Leben ist kein Märchen, aber wer den richtigen Fährleuten vertraut, kommt vielleicht sogar an die eine oder andere Glückshaut und empfindet königlich – außer man drückt ihm die Stange mit dem Ruder in die Hand.

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Franzobel

Franzobel ist ein österreichischer Schriftsteller. Er veröffentlichte zahlreiche Theaterstücke, Prosa und Lyrik. Seine Theaterstücke wurden unter anderem in Mexiko, Argentinien, Chile, Dänemark, Frankreich, Polen, Rumänien, der Ukraine, Italien, Russland und den USA gezeigt. 

Sein großer historischer Abenteuerroman „Das Floß der Medusa“ (Zsolnay Verlag) wurde mit dem Bayerischen Buchpreis 2017 ausgezeichnet und stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2017.

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