Coverstory, Issue 03/2019, beyond borders
Text: Nina Prehofer
Eine Grenze, laut Definition der Rand eines Raumes und damit ein Trennwert, eine Trennlinie oder Trennfläche. Grenzen trennen also. Menschen, Länder, Gedanken. Auch wenn sie uns beschränken, brauchen wir sie. Vor allem, um unsere Freiheit zu erkennen.
ENTSCHULDIGEN SIE, IST DAS DER SONDERZUG NACH PANKOW
ICH MUSS MAL EBEN DAHIN, MAL EBEN NACH OST-BERLIN *
„Freiheit kann sich ohne Grenzen nicht entfalten. Schon allein deshalb, weil ein Mensch sich nur dann als frei erleben kann, wenn er den Unterschied zur Unfreiheit zu empfinden vermag. Jedes menschliche Streben nach Freiheit ist nur denkbar durch das Überwinden bestehender Grenzen.“ So sagte es der Philosoph Konrad Paul Liessmann in einem Interview mit dem Magazin brand eins.
Die Berliner Mauer
Eine Grenze wurde vor 30 Jahren überwunden. Die Berliner Mauer fiel am 9. November 1989 und einte, was Jahrzehnte getrennt war und nie getrennt hätte sein dürfen. Eine Mauer durch eine europäische Stadt, irgendwie kaum vorstellbar. Und doch gerade in Tagen wie diesen ein sehr populärer Gedanke.
Was bedeutete die Mauer in Berlin?
Eine Grenze, von Menschen gezogen, die Familien, Freunden, Leben trennte und aus einer Welt zwei Welten machte. Plötzlich wurde aus einem Land – wenn auch durch den Zweiten Weltkrieg mehr als erschüttert –, das zusammengehörte, zwei zerrissene Teile, die plötzlich nicht mehr zusammengehören sollten. Und diese Grenze war für die einen noch restriktiver und unverschiebbarer als für die anderen. Während man vom „Westen“ in den Osten reisen durfte, konnte man vom Osten nicht so einfach in den Westen hinüber. Es wurde zu einer Grenze, die sich heute noch auf die Menschen und das Leben in Deutschland auswirkt. Auch ich kann mich an diese Zeit erinnern, ich war noch ein Kind. Wir fuhren mit dem Auto unsere Familie in Berlin besuchen. Im Westen. Als wir an der Grenze waren, wurde ich aufgeweckt von einem schwer bewaffneten Grenzbeamten, der kontrollieren wollte, ob ich auch tatsächlich das Kind bin, das im Pass meiner Mutter vermerkt war. Das war im Jahr 1989, also im selben Jahr, in dem die Mauer wenig später fallen sollte. Obwohl ich noch keine fünf Jahre alt war, ist mir diese Erinnerung stark im Gedächtnis geblieben.
Auch die Nervosität meiner Tante, einer Berlinerin, die niemals in den Osten fahren wollte. Sie hatte jedes Mal fast panische Angst, dass meine Eltern und ihr Bruder nicht mehr zurückkehren könnten von einem ihrer Abstecher auf die andere Seite der Mauer. Sie versuchte es vor uns Kindern nicht zu zeigen, aber wir merkten ihr an, dass etwas nicht stimmte.
Damals beunruhigte es mich auch, obwohl mir natürlich die Tatsache, dass wir uns in einer geteilten Stadt befanden, nicht wirklich bewusst war. Später, als junger Teenager, mit ein bisschen mehr Verständnis um und Wissen über die damalige Zeit, aber mit großer Naivität, wünschte ich mir, alt genug gewesen zu sein, um diese Zeit noch direkter erlebt zu haben. Ich stellte es mir abenteuerlich und aufregend vor, in den Osten zu fahren, den Checkpoint Charlie zu passieren, in eine andere Welt einzutauchen und diese Menschen auf der anderen Seite der Mauer kennenzulernen. Damals war mir immer noch nicht klar, was diese Mauer für die Menschen bedeutete – und für die Geschichte eines ganzen Landes.
ICH MUSS DA WAS KLÄREN, MIT EUREM OBERINDIANER
ICH BIN EIN JODELTALENT, UND ICH WILL DA SPIELEN MIT ’NER BAND *
Am 9. November 1989 fiel diese Mauer und die Bilder gingen um die Welt. Dieses Jahr gedenken wir diesem Tag zum 30. Mal. Wir feiern, eine Grenze überwunden zu haben. Sie niedergerungen zu haben. Die Menschen haben sich über diese von dem Großteil der Bevölkerung nicht gewollten Grenze hinweggesetzt. Während der Fall der einen Grenze gefeiert wird, werden anderswo schon seit einiger Zeit die Rufe nach neuen Grenzen und Mauern immer lauter. Viele stehen bereits.
ICH HAB’N FLÄSCHCHEN COGNAC MIT UND DAS SCHMECKT SEHR LECKER
DAS SCHLÜRF’ ICH DANN GANZ LOCKER MIT DEM ERICH HONECKER
UND ICH SAG, EY, HONEY, ICH SING’ FÜR WENIG MONEY
IM REPUBLIK-PALAST, WENN IHR MICH LASST *
Grenzübergänge
Bei den Überlegungen, wie man diesen Text bebildern könnte, gab ich mal ganz banal „die schönsten Grenzübergänge“ bei der Google-Suche ein. Nicht weil ich erwartet hatte, Fotos von idyllischen Grenzorten zu finden, sondern einfach aus Neugier, welche Welt sich einem damit öffnet. Auf der Seite von geo.de findet man zumindest noch ein paar skurrile wie hoffnungsvolle Bilder, dennoch wird einem bei der Suche nach Grenzübergängen ganz klar vor Augen geführt, dass Grenzregionen nicht nur nicht schön sind, sondern in erster Linie furchtbar schmerzhafte Orte, an denen Leid, Trauer oder Wut an der Tagesordnung stehen.
Die Grenze zwischen Mexiko und den USA ist seit der Amtszeit von Präsident Donald Trump, der medienwirksam um das Geld für einen Mauerbau kämpft, in der Gesellschaft präsent. Doch wie viele kennen die Grenze zwischen Afrika und der EU in Marokko? Dort, auf dem afrikanischen Kontinent, in einem afrikanischen Land, liegen die zwei spanischen Städte Ceuta und Melilla, umgeben von Mauern und Zäunen. Hier versuchen oder warten tagtäglich Tausende auf ihr Glück, irgendwie über den Zaun in die EU zu kommen. Das „bessere“ Leben vor der Nase und trotzdem nicht erreichbar. Welch Sarkasmus, dass diese Orte wunderschön sind.
ALL DIE GANZEN SCHLAGERAFFEN DÜRFEN DA SINGEN
DÜRFEN IHREN GANZEN SCHROTT ZUM VORTRAGE BRINGEN
NUR DER KLEINE UDO, NUR DER KLEINE UDO
DER DARF DAS NICHT, UND DAS VERSTEHEN WIR NICHT *
No limits
Doch wir wollen hier nicht nur über das trennende Element sprechen. Werden Grenzen überwunden, dann zeigt sich das Verbindende zwischen zwei Dingen. Plötzlich findet eine Annäherung statt. Wenn wir reisen und dabei Grenzen überschreiten, dann sehen wir, was uns vielleicht von einer anderen Kultur trennt, aber wir erkennen auch, was uns eint. Und indem wir uns öffnen und anderes kennenlernen, nähern wir uns an.
Mit dem Namen der Fotografin Elfie Semotan wird sehr oft ihr erfolgreiches Streben genannt, die Grenzen zwischen Kunst– und Modefotografie mit ihrer Arbeit aufzulösen. Sie hat damit zwei Disziplinen miteinander verbunden, die in den Köpfen vieler Menschen wenig miteinander zu tun hatten. Oder der US-amerikanische Schriftsteller und Journalist Hunter S. Thompson, der mit einer einzigen „Story“ die Grenze zwischen Journalismus und Literatur aufhob und mit „Gonzo“ ein völlig neues Genre begründete. Mit exzessivem Drogenkonsum und selbst provoziertem Chaos wurde der Gonzo-Stil für ihn zu einem „professionellen Amoklauf“, der den meisten wohl durch den Film „Fear and Loathing in Las Vegas“ mit Johnny Depp als Thompson in Erinnerung geblieben ist. Als einen Nachfolger könnte man den deutschen Autor und Journalisten Helge Timmerberg bezeichnen, dessen Reisegeschichten zu den unterhaltsamsten zählen.
ICH WEISS GENAU, ICH HABE FURCHTBAR VIELE FREUNDE
IN DER DDR UND STÜNDLICH WERDEN ES MEHR
OCH, ERICH EY, BIST DU DENN WIRKLICH SO EIN STURER SCHRAT
WARUM LÄSST DU MICH NICHT SINGEN IM ARBEITER- UND BAUERNSTAAT? *
Sportler überschreiten in Wettkämpfen regelmäßig körperliche Grenzen. Kürzlich hat der Läufer Eliud Kipchoge die Demarkationslinie von zwei Stunden bei einem Marathon unterboten. Der Kenianer lief in Wien die Rekordzeit von 1:59:40 Stunden für die klassische 42,195 km-Strecke. Auf die Frage, warum er das unbedingt schaffen wollte, antwortete er: „Ich wollte die Menschen inspirieren. Ich habe gezeigt, dass kein Mensch ein Limit hat.“
Grenzen entstehen im Kopf, Grenzen sind von Menschen gemacht. So schließen wir den Text, wie wir ihn begonnen haben, mit einem Zitat von Konrad Paul Liessmann: „Ohne Grenzen wäre nichts wahrnehmbar. Sie sind die Voraussetzung jeder menschlichen Erkenntnis. Denn jede Erkenntnis beginnt mit einem entscheidenden Akt: zu verstehen, dieses ist nicht jenes. Aber, und das gehört zu jeder Grenzerfahrung: Man kann auch falsche Unterscheidungen treffen. Nicht die Grenze ist das Problem, sondern ob diese Grenze an dieser Stelle sinnvoll und notwendig ist.“ Über die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit von Grenzen sollten wir also niemals aufhören, nachzudenken.
HONEY, ICH GLAUB’, DU BIST DOCH EIGENTLICH AUCH GANZ LOCKER
ICH WEIß, TIEF IN DIR DRIN, BIST DU EIGENTLICH AUCH’N ROCKER
DU ZIEHST DIR DOCH HEIMLICH AUCH GERNE MAL DIE LEDERJACKE AN
UND SCHLIEßT DICH EIN AUF’M KLO UND HÖRST WEST-RADIO *
* Zitate sind aus dem Songtext von Sonderzug nach Pankow © Sony/ATV Music Publishing LLC, Universal Music Publishing Group, Songtrust Ave. Interpretiert von Udo Lindenberg.
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