Der Kunstverein Friedrichshafen zeigt eine Gruppenausstellung mit Melike Kara, Larissa Sansour & Søren Lind, Julia Steinigeweg und Emma Talbot unter dem Titel Visions or Waking Dreams.
Wissenschaft, Faktizität und Empirie sind die Grundlagen jeder aufgeklärten, modernen Gesellschaft. Doch was passiert, wenn sich trotz aller Rationalität keine allgemeingültigen Aussagen über die Totalität der Welt mehr treffen lassen?
„Die Welt romantisieren heißt, sie als Kontinuum wahrzunehmen, in dem alles mit allem zusammenhängt. Erst durch diesen poetischen Akt der Romantisierung wird die ursprüngliche Totalität der Welt als ihr eigentlicher Sinn im Kunstwerk ahnbar und mitteilbar.“
Diese Aussage von Novalis ist für die Künstlerinnen und
Künstler der Ausstellung programmatisch
Visions or Waking Dreams
Wiederkehrende Themen von Melike Karas Malerei und Installationen sind die zwischenmenschliche Kommunikation und die Frage, wie individuelle und kollektive Geschichten erzählt und Identitäten konstruiert werden. Während ihre früheren Bilder eine figürliche Formensprache nutzten, verwischt sie in neueren Malereien zusehends die Grenze zur Abstraktion, sodass nur noch vereinzelt Silhouetten zu erahnen sind. Kara beschäftigt sich mit ihren eigenen kurdisch-alevitischen Wurzeln und schöpft aus ihrem persönlichen Archiv, das sie über Jahre aus verschiedenen Quellen zusammengetragen hat. Sie stemmt sich vehement gegen das Vergessen und versucht durch Fotografien, Erinnerungen und Erzählungen von Ereignissen, Mythen und Ritualen, die Geschichte und Traditionen des staatenlosen kurdischen Volkes zu dokumentieren und zu bewahren.
Larissa Sansour ist eine palästinensische Künstlerin, die in ihrer Praxis immer wieder Elemente der Popkultur und Science-Fiction nutzt, um politische und gesellschaftliche Themen zu behandeln und die komplexe Lebensrealität in Palästina und dem Nahen Osten zu beleuchten. Ihr multimediales Werk umfasst Skulpturen, Fotografien und Installationen. Darüber hinaus schafft sie bildgewaltige Filme, für die sie mit dem Drehbuchautor, Regisseur und Schriftsteller Søren Lind zusammenarbeitet. Auch ihr gemeinsamer Film In the Future They Ate From the Finest Porcelain (2015) bewegt sich im Spannungsfeld von Science-Fiction, Archäologie und Politik und erforscht die Rolle von Mythen für die Entstehung nationaler Identität. Er erzählt von einer Widerstandsgruppe, die im Untergrund kunstvolles Porzellan vergräbt, um eine völlig fiktive Zivilisation zu begründen, und so Ansprüche auf ihr schwindendes Land legitimieren zu können. Sobald das Porzellan ausgegraben wird, beweist es die Existenz des vermeintlichen Volkes.
Die Fotografin Julia Steinigeweg erforscht in ihren Arbeiten neue Technologien und deren zunehmenden Einfluss auf die Gestaltung der Realität. Für die Serie I think I saw her blink traf sie in Singapur eine Professorin, die ihr eigenes Roboter-Double erschaffen hat. Dort fand sie sich an einem Ort wieder, an dem die Grenzen zwischen Realität, Fiktion und Simulation zusehends verschwimmen. Die entrückt und teils dystopisch erscheinenden Fotografien von Menschen, Architekturen und sogar der Natur wirken artifiziell. Alles ist in perfekter Ordnung. Platz für Zufälle oder organisch gewachsene Strukturen scheint es in dieser „neuen“ Welt nicht zu geben. Die Diskrepanz zwischen tatsächlicher und simulierter Realität in den Fotografien gibt einen Ausblick darauf, wie sich die Gegenwart noch von der zu erwartenden Zukunft unterscheidet.
Der Ausgangspunkt des multimedialen Werks von Emma Talbot sind subjektive, intuitive Zeichnungen, aus denen sowohl feine, aus Seide gefertigte Malereien als auch Skulpturen und Videoanimationen entstehen. Ihre zunächst sehr subjektiven, aus der inneren Gedanken- und Gefühlswelt entstehenden Manifestationen werden in die Gegenwart mit all ihren Problematiken eingebunden. Formal kombiniert Talbots Bildsprache Figürliches mit Ornamentik und Mustern sowie mit eigenen und Texten anderer Literaten und Poeten. Sie erschafft traumhafte, energiegeladene Bildwelten, die immer auch vom Verhältnis des Menschen zum Universum und der Beziehung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft handeln.
Melike Kara (*1985)
Studierte an der Kunstakademie Düsseldorf bei Rosemarie Trockel. Ihre Werke wurden u.a. im Witte de With Center for Contemporary Art, Rotterdam, im Wiels Contemporary Art Centre, Brüssel, dem Yuz Museum, Shanghai, im Kunstverein Göttingen und dem Kölnischen Kunstverein sowie dem Ludwig Forum Aachen gezeigt. Melike Kara lebt und arbeitet in Köln.
Søren Lind (*1970)
Ein dänischer Philosoph, Schriftsteller, Künstler, Regisseur und Drehbuchautor. Er schrieb Bücher über Geist, Sprache und Verständnis, bevor er sich der Kunst, dem Film und der Fiktion zuwandte. Er hat Romane, Kurzgeschichten und Kinderbücher veröffentlicht und seine Filme wurden u.a. im dänischen Pavillon auf der 58. Venedig Biennale gezeigt, bei Copenhagen Contemporary, im MoMA, in der Nikolaj Kunsthal, Kopenhagen, der Berlinale, dem International Filmfestival Rotterdam und dem BFI London Film Festival. Lind lebt und arbeitet in London.
Larissa Sansour (*1973)
Studierte Bildende Kunst in Kopenhagen, London und New York. Ihre Werke wurden u.a. im Centre Pompidou, in der Nikolaj Kunsthal, Kopenhagen, der Tate Modern, bei der Liverpool und Istanbul Biennale und dem Rotterdam Film Festival gezeigt. Zur 58. Venedig Biennale hat sie 2019 mit der Installation Heirloom den dänischen Pavillion bespielt. Larissa Sansour lebt und arbeitet in London.
Julia Steinigeweg (*1987)
Studierte Kommunikationsdesign und Bildende Kunst an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften und der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Ihre Arbeiten wurden u.a. in den Deichtorhallen Hamburg Haus für Photographie, dem NRW Forum, Düsseldorf, der Daegu Photo Biennale in Südkorea sowie dem Künstlerhaus Dortmund ausgestellt. Zu ihren Kunden gehören zudem DIE ZEIT, GEO, das monopol Magazin, die Welt am Sonntag oder das SZ-Magazin. Julia Steinigeweg lebt und arbeitet in Berlin.
Emma Talbot (*1969)
hat Bildende Kunst und Malerei am Birmingham Institute of Art & Design und dem Royal College of Art, London studiert. Ihre Werke wurden u.a. in der Kunsthalle Giessen, dem GEM Kunstmuseum voor Actuele Kunst, The Hague, im Kunsthaus Pasquart, Biel und dem NAK Neuen Aachener Kunstverein gezeigt. 2020 wurde sie mit dem Max Mara Prize for Woman ausgezeichnet. 2022 ist sie zur Teilnahme an der 59. Venedig Biennale eingeladen. Sie lebt und arbeitet in London.
Fotograf: Kilian Blees
Kunstverein Friedrichshafen >> online