Ai Weiwei. In Search of Humanity – ALBERTINA MODERN: bis 4. September 2022

Ai Weiwei FUCK, 2000 Leuchtschrift Privatsammlung Foto: ALBERTINA, Wien / Lisa Rastl und Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei

Ai Weiwei – berühmt als Menschenrechtsaktivist – zählt zu den einflussreichsten Künstlern unserer Zeit. Seine bislang umfangreichste Retrospektive gibt Einblick in alle Schaffensphasen seiner mehr als vier Jahrzehnte währenden Laufbahn und lässt seine unvergleichbaren ästhetischen Gestaltungsprinzipien erkennen.

Die ALBERTINA MODERN widmet ihm nun seine bislang umfangreichste Retrospektive. In Search of Humanity befasst sich eingehend mit dem Aspekt der Menschlichkeit und der künstlerischen Stellungnahme in Ai Weiweis Schaffen. Schon seine frühesten Werke sind von der Auseinandersetzung mit seinem Heimatland China geprägt, wo er als Kind durch die Verbannung seines Vaters, des großen Dichters Ai Qing, die Auswirkungen der Kulturrevolution miterlebte. Als junger Mann im New Yorker East Village der 1980er-Jahre wurde er Zeuge und Dokumentarist der dortigen Protestbewegung. Zurück in Peking waren es die unmittelbaren Nachwehen des Massakers am Platz des Himmlischen Friedens, auf die er künstlerisch reagierte. Sein ausgestreckter Mittelfinger, den er bekannten Bauwerken als Repräsentationsobjekten der Macht entgegenhielt und damit Missstände anprangerte, wurde schließlich zu seinem Markenzeichen. Immer wieder sind es Machtstrukturen und die Mechanismen der Herrschaftsausübung, die der Künstler thematisiert, sei es die Zerstörung von Kulturgütern als Ausdruck der eigenen Überlegenheit oder die Ausübung von Manipulation, Zensur und Überwachung von staatlicher Seite. Unablässig schaut er stets dort genauer hin, wo er Meinungsfreiheit und Menschenrechte in Gefahr sieht – bei Einschüchterungsmethoden der chinesischen Regierung, der Bedrohung von Journalisten sowie politischen Aktivisten über die Proteste in Hongkong und die massiven Restriktionen in Wuhan beim Ausbruch der Corona-Pandemie bis hin zur eigenen Inhaftierung im Jahr 2011.

Es sprechen:
Klaus Albrecht Schröder, Generaldirektor der ALBERTINA und der ALBERTINA MODERN
Dieter Buchhart, Kurator der Ausstellung
Elsy Lahner, Kuratorin der Ausstellung
Die Ausstellung ist von 16. März bis 4. September 2022 in der ALBERTINA MODERN zu sehen.
Header Credit: Courtesy Ai Weiwei | Studio Gao Yuan

Die aktuelle Situation Flüchtender auf der ganzen Welt betrachtet Ai als die vielleicht größte globale humanitäre Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, als enorme Herausforderung für uns als solidarische Gesellschaft – und sieht bei jedem und jeder einzelnen von uns die Verantwortung, zu handeln. Mit Ai Weiweis kulturellen Readymades, seinen Wandarbeiten, Skulpturen, Installationen, Fotografien und zahlreichen Filmen bietet die Ausstellung einen beeindruckenden Überblick über die mehr als vier Jahrzehnte währende Karriere des Künstlers und beinhaltet Schlüsselwerke aus allen Schaffensphasen.

Überraschende Rätselhaftigkeit

Die frühen Objekte Ais verknüpfen logisch und funktional nicht zusammengehörige Gegenstände zu einer überraschenden Rätselhaftigkeit: Eine Schaufel zieht sich einen warmen Pelz über, zwei Schuhe paaren sich wie ineinander verkeilte Mistkäfer. Er befreit die Dinge von ihrem Gebrauchswert und fügt Fundstücke zu einer neuen Objektwelt zusammen.

Dekonstruktion

Fragmente, Deformationen und Überreste aller Arten bevölkern Ais Werk. In ihm spiegelt sich das Erlebnis der schrecklichen Jahre der „Kulturrevolution“, ihres Vernichtungsfeldzugs im Dienst der maoistischen Umerziehung des Volkes. Das ästhetische Prinzip der Destruktion sensibilisiert den Künstler für die Entdeckung zerstörter Skulpturen, deren Fragmente Ai wie kostbare Reliquien präsentiert. Später – unter dem Eindruck der bewaffneten Auseinandersetzungen in Syrien – fahndet er nach Bruchstücken, die die Zerstörungswut von Krieg anprangern.

Readymades

All diese Readymades – das Laufband von Julian Assange oder der mit geheimem NSAMaterial gefüllte Stoffpanda – lassen uns die Welt auf ungebräuchliche Weise wahrnehmen. Ohne das Arrangement der von Flüchtlingen am Strand hinterlassenen Schwimmwesten, die sich wie eine Lotosblume um eine tonnenschwere Kristallkugel legen, würde die Katastrophe der Migranten bald wieder unanschaulich werden: vergessen durch Gewöhnung.

Metamorphose

Ein weiteres Gestaltungsprinzip ist die Metamorphose. Die Verwandlung mittels Marmor etwa setzt den Dingen ein Denkmal: Es sind Erinnerungen an seine Kindheit, Traumata seiner Gefangenschaft, Türen abgerissener Häuser, die der Modernisierung Chinas zum Opfer gefallen sind. Ai präsentiert seine Handschellen im kostbaren Gefäß einer edlen Vitrine oder stellt steinerne Monumente auf einen Sockel. Ertrunkene Flüchtlinge, von Heuschrecken leergefressene Kornfelder oder die Navigationsroute der Sea-Watch 3 baut Ai aus bunten Legosteinen zu beunruhigenden Bildern. Lego, das berühmteste Spielzeug der Welt, verliert seine kindliche Unschuld. Der visuelle Scherz bekommt eine tiefere Bedeutung. Die von diesen Metamorphosen ausgehende Verwirrung, die Verwandlung von Dingen in unbrauchbare Monumente, öffnet das Tor zu weitreichenden politischen Assoziationen und Interpretationen. Nie war Konzeptkunst anschaulicher, sinnlicher und engagierter.

Ausgestellte Arbeiten

New-York und Peking-Fotografien

Von 1983 bis 1993 wohnt Ai Weiwei in New York. Mit dem Fotoapparat dokumentiert er seine Eindrücke und Treffen mit Freunden wie Allen Ginsberg und Robert Frank, oder er lässt sich selbst beim Entdecken der Stadt fotografieren. Das beiläufige Fotografieren dient ihm als visuelles Tagebuch. Mit der Zeit verändern sich die Aufnahmen, werden weniger privat. Durch die Linse beobachtet er die Vorgänge in seiner unmittelbaren Nachbarschaft im East Village, wo es im Tompkins Square Park im Sommer 1988 zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Aktivisten und Anrainern kommt, weil die rund 200 im Park lebenden Obdachlosen durch eine Sperrstunde vertrieben werden sollen. Er erlebt die ACT-UP (Aids Coalition to Unleash Power)-Proteste und dokumentiert die Festnahmen der Demonstrierenden durch die Polizei. Das East Village wird zur Bühne für politische, gesellschaftliche, ethische und sexuelle Anliegen, für zivilen Ungehorsam. Ai gesellt sich zu den Aktivistinnen und Aktivisten und erlebt trotz der vonseiten der Machthabenden ausgeübten Gewalt die Chance jedes und jeder Einzelnen, durch sein oder ihr Handeln etwas zum Positiven zu verändern.
1993 kehrt Ai wegen seines kranken Vaters nach Peking zurück. Geprägt durch die Zeit in den USA, fühlt er sich fremd im eigenen Land. Als Beobachtender geht er durch die Stadt und nimmt auch hier die Kamera zu Hilfe, hält aber auch sein persönlichstes Umfeld, seinen sterbenden Vater fest.

Coronation

Coronation veranschaulicht, wie die chinesische Staatsmacht auf den Ausbruch der Coronapandemie reagiert, vom ersten bis zum letzten Tag der Abriegelung von Wuhan Anfang 2020. Innerhalb weniger Tage werden Notfallkrankenhäuser errichtet, 40.000 medizinische Mitarbeiter aus ganz China in das Gebiet gebracht und die Einwohner der Stadt in ihren Häusern eingeschlossen. Am Beispiel der Pandemie gibt Ai Weiwei Einblick in das chinesische Krisenmanagement und die soziale Kontrollmaschinerie. Mithilfe von Überwachung, ideologischer Gehirnwäsche und brutaler Entschlossenheit wird jeder Aspekt der Gesellschaft gesteuert. Der Künstler befindet sich zu dieser Zeit selbst nicht in China. Daher heuert er eine Crew an, die teils heimlich filmt. Viele Aufnahmen stammen von Privatpersonen, die freiwillig mitwirken, wodurch die Ereignisse aus deren ganz persönlicher Perspektive geschildert werden.

A Metal Door with Bullet Holes / Eine Metalltür mit Einschusslöchern

Das Thema Krieg, Flucht und Migration greift Ai Weiwei ab 2015 in seinen Werken immer wieder auf. Aus Fundstücken schafft er Readymades wie dieses große Metalltor mit Einschusslöchern, das er bei Dreharbeiten in Syrien nahe der türkischen Grenze entdeckt hat und das als ein Gegenstand unter vielen Zeugnis von der jüngst noch so präsenten Gewalt in diesem Gebiet gibt.

Ai Weiwei
A Metal Door with Bullet Holes, 2015
Metall
Courtesy of the artist
Foto: Courtesy Ai Weiwei Studio © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei
A Metal Door with Bullet Holes, 2015
Metall
Courtesy of the artist
Foto: Courtesy Ai Weiwei Studio © 2022 Ai Weiwei

Frühe Werke

In New York ist Ai Weiwei begeistert von der Kunst der Moderne und der Gegenwart, die er hier erstmals zu sehen bekommt. Daraus folgt eine Neuorientierung seiner eigenen künstlerischen Praxis: weg von der Malerei, hin zum Objektkult und zur Magie des Readymades. Doch seine Objekte gehen über das, was Marcel Duchamp mit seinen Fundstücken als Anti-Kunst vorführt, hinaus. Psychische, politische und soziale Dimensionen der Objekte rücken in den Vordergrund. Der visuelle Scherz, nicht zusammenhängende Dinge aufeinanderprallen zu lassen, bekommt eine tiefere Bedeutung, die auch in Ais Biografie verwurzelt ist.

So lässt der Spaten in braunem Fell an Ais Vater, den Schriftsteller Ai Qing, denken, der in der Verbannung in Xinjiang erniedrigt wurde, indem man ihm die Reinigung der Latrinen im Lager zuteilte. Die Geige, die tief in einem Paar miteinander verschnürter grober Schuhe steckt, mag ebenso ein Verweis auf die harte körperliche Arbeit sein, der Intellektuelle und Kulturschaffende zur Zeit der chinesischen „Kulturrevolution“ in Umerziehungslagern ausgesetzt waren. Ais Objekte aus exakt zusammengenähten Lederschuhen bringen seine Hochachtung vor der traditionellen Handwerkskunst zum Ausdruck, die auch in vielen seiner späteren Werke sichtbar wird, wo sie als Gegensatz zu billigen Massenprodukten „Made in China“ aufzufassen ist. Das Konzept dieser Assemblagen ist auf die Destruktion des Ausgangsmaterials angewiesen: Kleiderbügel werden verbogen, Schuhe zerschnitten, Spaten unbrauchbar gemacht, Beile zerbrochen und neu zusammengefügt wie ein falsch verheilter Schienbeinbruch.

Ai Weiwei
Neolithic Vase with Coca-Cola Logo, 1994
Tongefäß, , Industriefarbe
Privatsammlung
Foto: Albertina, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei
Neolithic Vase with Coca-Cola Logo, 1994
Tongefäß, , Industriefarbe
Privatsammlung
Foto: Albertina, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei

Dieses Prinzip behält Ai auch nach seiner Rückkehr nach China 1993 bei. Nun rücken jedoch vermehrt Objekte der eigenen Kultur ins Zentrum, mit denen er sich auf die brachiale Zerstörung von Traditionen während der „Kulturrevolution“ sowie die Verdrängung der überlieferten Kultur im modernen, im neuen kapitalistischen China bezieht. Die neolithische Vase, überschrieben mit „Coca-Cola“, einem der allgegenwärtigsten Logos der Konsumkultur, macht dieses Objekt zu einer Kritik an der Kultur des Vergessens und Verdrängens des Alten durch das Neue.

Mao

Inspiriert von Andy Warhols bekannter Mao-Serie, malt Ai ebenfalls mehrere Porträts von Mao Zedong, zu dem er als chinesischer Staatsbürger aber natürlich einen anderen Bezug hat. Ai zieht Mao als einst allgegenwärtiges Modell heran, um unterschiedliche Malweisen zu erproben. Für dieses Porträt verwendet er als Vorlage historische Propagandaplakate aus den 1960er-Jahren, der Zeit der Kulturrevolution. Die Querstreifen täuschen den Eindruck von billigem Wellblech als Malgrund vor.

Safe Sex

Im Jahr 1988 präsentiert Ai seine Werke erstmals in einer Ausstellung mit dem Titel Old Shoes, Safe Sex in einer Galerie in SoHo. Das titelgebende Werk Safe Sex, ein Regenmantel, aus dem in Schritthöhe ein Kondom hängt, ist eine Reaktion des Künstlers auf die große Bedrohung durch Aids, die er im New York der 1980er-Jahre in seinem Umfeld hautnah erlebt.

Dropping a Han Dynasty Urn / Eine Urne aus der Han-Dynastie fallen lassen

Wer bestimmt, was kostbar ist? Ist ein Gegenstand nur deshalb wertvoll, weil er eine bestimmte Zeit überdauert hat? Selbst wenn er zur Zeit seiner Herstellung ein Massenartikel war? Denn genau das trifft auf diese Urne aus der Han-Dynastie (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) zu, die Ai Weiwei 1995 zerschmettert. In den drei Schwarz-Weiß-Fotos ist diese subversive Aktion festgehalten.

Ai Weiwei
Dropping a Han Dynasty Urn, 1995
Schwarz-weiß Fotografien (Triptychon)
Privatsammlung
Foto: Courtesy Ai Weiwei Studio © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei
Dropping a Han Dynasty Urn, 1995
Schwarz-weiß Fotografien (Triptychon)
Privatsammlung
Foto: Courtesy Ai Weiwei Studio © 2022 Ai Weiwei

Tian’anmen – Platz des Himmlischen Friedens

Zurück in China versucht Ai Weiwei die Proteste von 1989 und das Tian’anmen- Massaker am 4. Juni nachzuvollziehen und zu verarbeiten. Er macht es sich zur Tradition, den Schauplatz des Geschehens an dessen Jahrestag aufzusuchen, jenen geschichtsträchtigen Ort, an dem sich neben dem Tor des Himmlischen Friedens, dem Eingang zur Verbotenen Stadt mit dem Bildnis von Mao Zedong darüber, auch dessen Mausoleum befindet.
1994 sucht Ai den Platz gemeinsam mit der Künstlerin Lu Qing auf. Sie stellt sich mit einigem Abstand so vor das Tor, dass Tor und Mao-Porträt im Hintergrund gut zu erkennen sind. Sie posiert wie für eine klassische Touristenaufnahme und hebt dann für das von Ai aufgenommene Foto den Rock – eine scheinbar verspielte, humorvolle Geste der Leichtigkeit, die jedoch auf dem streng bewachten Platz nur für einen kurzen, unbemerkten Moment möglich ist und gerade in dieser Zeit einem Affront gleichkommt. Ihre Pose und die Fotoaufnahme stellen damit einen Protest gegen die rigiden Strukturen des Regimes dar.
Auch mit Tianan Men (Tianan Männer) widmet sich Ai den Ereignissen auf dem Tian’anmen-Platz, genauer einem Vorfall, der als die „Eierwäsche von Mao“ bekannt werden sollte. Lu Decheng, Yu Dongyue und Yu Zhijian, drei junge Männer aus Hunan, die sich der Studentenbewegung angeschlossen haben, schleudern am 23. Mai 1989 mit Tinte gefüllte Eier auf das Porträt Maos. Die Studenten verdächtigen die drei, Spione und Provokateure zu sein, und liefern sie der Polizei aus. Sie werden zu langen Haftstrafen verurteilt. Ai reproduziert mit seinem Lego-Werk die verunstaltenden Farbspritzer auf dem Mao-Bild, zeigt das Porträt selbst jedoch nicht. Auf diese Weise ähnelt das Werk einem abstrakten Gemälde und ist doch der zu einem Bild und Mahnmal geronnene Akt des Protests.

Lego

Seit einigen Jahren zieht der Künstler Legobausteine als Material heran. Zum einen, weil ihm das verpixelte Erscheinungsbild der Arbeiten gefällt und er damit wieder auf ein verfremdetes Original verweist, zum anderen, weil das Bauen mit Lego etwas Egalitäres an sich hat.

Ai Weiwei
Zodiac (Dragon), 2019
LEGO-Bausteine
Privatsammlung
Foto: Albertina, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei
Zodiac (Dragon), 2019
LEGO-Bausteine
Privatsammlung
Foto: Albertina, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei

Mit der entsprechenden Vorlage ist es jedem möglich, das Bild nachzubauen, wodurch wiederum der Unterschied zwischen Kunst und Massenprodukt thematisiert wird. Damit werden die Grenzen zwischen High Art und Low Art infrage gestellt.

Study of Perspective / Perspektivstudie

Ebenfalls auf dem Platz des Himmlischen Friedens fotografiert Ai 1995 erstmals seinen ausgetreckten Mittelfinger. Noch eindeutiger und dezidierter wendet er sich damit gegen die aktuellen Machthabenden und bezieht Stellung. In weiterer Folge weitet Ai seinen Protest aus, beschränkt ihn nicht mehr nur auf China. Wie ein Tourist nimmt er weltweit bekannte Bau- und Kunstwerke ins Visier und reckt dabei seinen Arm mit dem Stinkefinger mittig ins Bild. Mit dieser Geste bezieht er sich stets auf Symbole und Signifikanten politischer oder kultureller Macht wie das Weiße Haus in Washington, den Eiffelturm in Paris, die Skyline von Hongkong oder den Reichstag in Berlin. Nie richtet sich die Handbewegung gegen Menschen, da der Künstler in jedem oder jeder Einzelnen das Potenzial sieht, etwas zum Positiven zu bewegen.

Ai Weiwei
Study of Perspective – Eiffel Tower, 1999
Farbfoto
ALBERTINA, Wien – The ESSL Collection
Foto: Mischa Nawrata © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei
Study of Perspective – Eiffel Tower, 1999
Farbfoto
ALBERTINA, Wien – The ESSL Collection
Foto: Mischa Nawrata © 2022 Ai Weiwei

Mit dem Titel Perspektivstudie verwendet Ai die in der Kunst gebräuchliche Bezeichnung für eine räumliche Vorzeichnung und macht damit klar, dass es sich hier um Kunst handelt. Und anstatt, wie sonst üblich, die Entfernung mit dem Daumen zu peilen, verwendet er seinen Mittelfinger. Andererseits verweist er mit dem Titel auf seinen eigenen Standpunkt und auf die Perspektive – die Aussicht –, mit seinem Handeln die Zukunft zu verändern. Wir sehen die Szenen aus der Sicht des Künstlers. Genau genommen könnte es aus diesem Blickwinkel auch unser Arm sein, der ins Bild ragt. Auf diese Weise werden wir aufgefordert, unsere eigene Position gegenüber Autoritäten zu hinterfragen und selbst für autonome Rechte und freie Meinungsäußerung einzustehen.

Fahrräder

Das erste Fahrrad-Objekt Ai Weiweis entsteht 2003. Wie schon in seinem Frühwerk bezieht er sich damit auf Marcel Duchamp und dessen Readymades, konkret auf das Fahrrad-Rad (1913), für das Duchamp ein Vorderrad samt Gabel verkehrt herum auf einen Hocker montiert hat. Das Fahrrad hat in China eine ganz eigene Bedeutung, denn das Land galt lange als Fahrradnation. Ai selbst hat als Kind erlebt, wie wichtig es war, ein eigenes Fahrrad als Fortbewegungsmittel zu besitzen. Noch in den späten 1980er-Jahren gibt es in China
kaum motorisierte Privatfahrzeuge, die Fahrräder dominieren den Stadtverkehr. Im Laufe der Jahrzehnte wird sich das ändern. Die Städte wachsen, und die Distanzen sind nicht mehr mit dem Fahrrad zu bewältigen. Immer mehr Menschen können sich ein Auto leisten und steigen um, was zur hohen Smogbelastung in den chinesischen Großstädten beiträgt.

Ai Weiwei
Forever Bicycles, 2003
42 Fahrräder
Privatsammlung
Foto: ALBERTINA, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei
Forever Bicycles, 2003
42 Fahrräder
Privatsammlung
Foto: ALBERTINA, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei

Alle diese Aspekte vereint Ai in seinen Fahrrad-Werken. Er zieht dafür meist ein bestimmtes Fabrikat der Shanghaier Marke Forever heran. Ai montiert die Fahrräder so aneinander, dass sie nicht mehr funktionstüchtig sind, ohne Lenker, Pedale und Ketten, teils ohne Sattel. Er spielt damit auf die chinesische Bevölkerung an, auf deren Synchronisierung und Uniformierung, deren Zusammenspiel als Kollektiv, das jedoch dem Einzelnen kaum Bewegungsfreiheit ermöglicht.

Rem(a)inders / Erinnerungsbruchstücke

Für Rem(a)inders, ein Wortspiel aus „remainders“ (Reste) und „reminders“ (Mahnungen/Erinnerungen) – frei übersetzt „Erinnerungsbruchstücke“ – zerkleinert der Künstler ganze Fahrräder in fünf Zentimeter große Fragmente. Wie in vielen seiner Werke begreift Ai diesen Akt nicht als Zerstörung. Vielmehr wird der Gegenstand in einen anderen Zustand transformiert, der das Alte in sich bewahrt, an dieses erinnert und ihm eine neue Bedeutung gibt.

Kulturelles Erbe

In seinen ersten Jahren zurück in Peking besucht Ai Weiwei regelmäßig Floh- und Antikmärkte. Durch den großen Bauboom in den 1990er-Jahren in China werden zu dieser Zeit gehäuft antike Artefakte in den umgegrabenen Erdschichten gefunden und in der Folge zumeist günstig zum Verkauf angeboten. Ai beginnt diese Objekte zu sammeln. Ähnlich wie er zuvor in New York in Anlehnung an Marcel Duchamp vorgefundene Gegenstände zu Readymades erklärt oder zu künstlerischen Arbeiten umfunktioniert hat, zieht er nun Kulturgüter heran, um aus diesen Kunstwerke zu schaffen – kulturelle Readymades.
Indem Ai die ursprünglichen Objekte verändert – neu kombiniert, übermalt oder gar zerstört – hinterfragt er deren Bedeutung und den Wert, der einem Gegenstand zugemessen oder abgesprochen wird. Er verweist mit diesen Werken auch darauf, wie bei politischen Umschwüngen mit Kulturgütern vorangegangener Epochen umgegangen wurde und wird, wie neue Machthaber diese entfernen oder brutal vernichten lassen, um ihrem Einfluss und ihrer Stärke Nachdruck zu verleihen. Nicht zuletzt bezieht sich Ai auf die Gräuel der chinesischen „Kulturrevolution“ (1966–1976), bei der Millionen von Menschen unter der Vorgabe der Säuberung und proletarischen Erneuerung getötet, gefoltert oder wie sein Vater verbannt wurden. Für den Aufbau einer neuen Gesellschaft wurde zur dafür notwendigen Zerstörung der sìjiù (der „Vier Alten“) aufgerufen: alter Sitten, alter Gewohnheiten, alter Kulturen und alter Denkweisen. Im Zuge dessen wurden etliche historische Stätten in Schutt und Asche gelegt, Kunstschätze und Bücher vernichtet.

Tea Brick / Tee-Ziegel

Pu’Er oder Pu-Erh ist ein fermentierter Tee, der in der südchinesischen Provinz Yunnan hergestellt wird. In einem seit dem 10. Jahrhundert bekannten Verfahren werden die Teeblätter gewelkt, gedünstet und dann in Ziegel, Kugeln oder Fladen gepresst. Auf diese Weise können sie haltbar gemacht, besser transportiert und somit exportiert werden und dabei über Jahre oder sogar Jahrzehnte weiterreifen. Der Künstler übernimmt die gebräuchliche Würfelform des Tees und schafft ein Kunstwerk, das an minimalistische Arbeiten von Donald Judd, Sol LeWitt, Richard Serra oder Robert Morris anknüpft. Zugleich verweist Ai damit auf die jahrhundertelangen Traditionen seines Heimatlandes, auf China als Exportland sowie auf dessen herausragende Rolle als globale Wirtschaftsmacht.

(Feet) Buddha/ (Füße) Buddha (Zitat von Ai Weiwei)

„Diese Füße stammen zum Großteil von den beiden größten Stätten buddhistischer Skulptur in der Geschichte Chinas: aus Quyang in der Provinz Hebei und Qingzhou in der Provinz Shandong. Die meisten Objekte datieren etwa 1500 Jahre zurück auf die Nördliche Wei-Dynastie oder die Nördliche Qi-Dynastie. Nach einer Revolution oder einem Dynastiewechsel wurden solche Gegenstände häufig zerstört.

Ai Weiwei
Feet (Buddha), 2003
Stein, Holzsockel, Holztisch
Privatsammlung, Foto: ALBERTINA, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei
Feet (Buddha), 2003
Stein, Holzsockel, Holztisch
Privatsammlung, Foto: ALBERTINA, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei

Im vorliegenden Fall geschah dies bereits kurz nach Herstellung der Skulpturen. Diese Fragmente kultureller Erzeugnisse sind ein Beleg politischer Macht. Die Konstruktion und Destruktion religiöser Bilder oder Kunstgegenstände war schon immer ein Mittel, die Gedanken und Ästhetik der Menschen zu kontrollieren.“

Tang Dynasty Courtesan in Bottle / Tang-Dynastie-Kurtisane in Flasche (Zitat von Ai Weiwei)

„In diesem traditionellen Behältnis rastlosen Verlangens und umherschweifender Fantasie materialisiert sich elegant schwebend eine mehr als tausend Jahre alte Kurtisane aus Stein. Diese Arbeit kombiniert auf humorvolle Weise die Symbole zweier zentraler Rauschmittel des Mannes und spielt dabei gleichzeitig mit den Gegensätzen zwischen einmaligem Artefakt und Wegwerfobjekt, feinstem Kunsthandwerk und Massenproduktion, Antiquität und Modernität.“

Souvenir from Beijing / Souvenir aus Peking

Im Zuge der Modernisierung der Städte werden viele Hutongs, Wohngebiete in traditionell chinesischer Bauweise, abgerissen, um Platz für neue Gebäude zu machen. Diese Ziegel stammen aus solchen demolierten Hutongs. Sie ruhen in kleinen Kästchen, die wiederum aus dem Holz von Tempeln der Qing-Dynastie (1644–1911/12) bestehen. Wie Toten in ihren Särgen erweist Ai Weiwei jenen Überresten seinen Respekt und in gewisser Weise die letzte Ehre. Durch die Umgestaltung seitens des Künstlers erfahren die antiken Gegenstände eine Neubewertung und Neudefinition – eine Erneuerung.

Dust to Dust / Staub zu Staub

In den Glasgefäßen befindet sich Staub. Dieser stammt von jungsteinzeitlichen Keramiken, die der Künstler zerbrochen und zu kleinsten Partikeln vermahlen hat. Die im Regal aufgereihten Gefäße und der Titel lassen an Urnen mit menschlichen Überresten, an eine Erinnerungsstätte denken. Ai weist darauf hin, dass letztlich auch die kostbarste Keramik aus Staub geschaffen wurde und – wie wir selbst – irgendwann wieder zu Staub zerfällt. Ebenso bezieht sich Ai erneut auf die konzeptionellen Arbeiten von Marcel Duchamp, insbesondere das Werk Air de Paris (Pariser Luft) von 1919. Es besteht aus einem leeren Glasbehälter und wirft die Frage auf, was er denn überhaupt enthält. In Anlehnung daran geht es bei Staub zu Staub darum, woraus der Staub in den Glasgefäßen letztlich besteht und welchen Wert wir ihm zuschreiben.

Sunflower Seeds / Sonnenblumenkerne

Jeder einzelne dieser naturgetreu nachgebildeten Sonnenblumenkerne aus Porzellan wird von 1600 Kunsthandwerkerinnen und -handwerkern in einem aufwendigen mehrstufigen Verfahren hergestellt, individuell geformt und bemalt. Ai Weiwei stellt traditionelle Handwerksprodukte der für den weltweiten Export massengefertigten Ware „Made in China“ gegenüber. Während der Kulturrevolution hat man Mao Zedong mit der Sonne verglichen und das Volk mit Sonnenblumen, die sich ihm zuwenden. Der Künstler untergräbt diese in seiner Kindheit populäre Bildsprache. Er kritisiert mit den Sonnenblumenkernen den Konformismus in China, einem Staat, in dem die Bevölkerung als uniforme Masse betrachtet wird und das Individuum keine Rolle zu spielen hat. Er betont mit diesem Werk das Potenzial jedes und jeder einzelnen, aus sich selbst heraus zu wachsen. Sonnenblumenkerne gelten in China zudem als beliebter Snack, den Ai in seiner Kindheit – der Zeit der Verbannung, als das Essen knapp war – geschätzt hat. Als Erinnerung hat sich ihm allerdings ebenso eingebrannt, wie bei den abendlichen Lagerversammlungen Sonnenblumenkerne geknabbert wurden, während sein Vater vor Publikum auf einer Bühne kritisiert und gedemütigt wurde.

Untitled (after Van Gogh) / Ohne Titel (nach van Gogh)

Seit Oktober 2019 wütet in Ostafrika, auf der Arabischen Halbinsel und auf dem indischen Subkontinent eine Heuschreckenplage, die bedrohliche Ernteausfälle in den ohnehin schon von Not und Armut betroffenen Ländern zur Folge hat. Die Wissenschaft stellt einen Zusammenhang der Plage mit dem globalen Klimawandel fest. Die ungewöhnlich starken Regenfälle, die den Wüstenheuschrecken gute Brutbedingungen bieten, haben ihre Ursache in der höheren Wassertemperatur des Indischen Ozeans.

Durch Bilder aus der betroffenen Region in Pakistan fühlt sich Ai Weiwei an Vincent van Goghs Ölgemälde Le Semeur au soleil couchant (Der Sämann) von 1888 erinnert. Seiner Legoarbeit könnte tatsächlich beides, Fotoaufnahmen oder Gemälde, zugrunde liegen. Der Künstler zieht mit diesem Werk eine Parallele zwischen van Goghs Feldarbeitern und den harten Lebensumständen in vielen Teilen der heutigen Welt.

Map of China / Landkarte von China (Zitat von Ai Weiwei)

„Landkarte von China besteht aus dem Holz eines alten Tempels, der aufgrund von Baumaßnahmen abgerissen wurde. Ich werde oft gefragt, ob hier eine bestimmte politische Aussage dargestellt ist, doch wurde die Arbeit dem Material und dessen Möglichkeiten folgend angefertigt. Sämtliche Verbindungen wurden entsprechend jeder einzelnen Form ausgeführt. Das Hauptproblem bestand in der Lösung der Aufgabe, 100 Teile fest und exakt zusammenzuhalten. Die Landkarte ist hier nur die äußere Form.“

Ai Weiwei
Map of China, 2004
Holz
Privatsammlung
Foto: ALBERTINA, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei

Ai Weiwei
Map of China, 2004
Holz
Privatsammlung
Foto: ALBERTINA, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei

Tree / Baum (Zitat von Ai Weiwei)

„Die Bäume sind Totholz aus den Gebirgen der Provinz Jiangxi. Diese Äste wurden entweder vom Blitz getroffen oder einfach zu alt, und man hat sie jahrzehntelang sich selbst überlassen. Also dachte ich, es wäre schön, sie wieder zu einem Baum zusammenzufügen, aber aus unterschiedlichen Baumarten, von 100 verschiedenen Orten stammend. Wir haben sie so montiert, dass sie sämtliche Details eines gewöhnlichen Baums aufweisen. Zugleich empfindest du ein Unbehagen, irgendetwas ist seltsam, ungewohnt. Es ist, als würde man versuchen sich vorzustellen, wie der Baum einmal ausgesehen hat.“

Erdbeben in Sichuan

Am frühen Nachmittag des 12. Mai 2008 erschüttert ein verheerendes Erdbeben der Stärke 7,9 den Südwesten Chinas. Am stärksten betroffen ist die Provinz Sichuan, wo ganze Dörfer vom Erdboden verschwinden und Städte völlig zerstört werden. 90.000 Menschen sterben, mehr als fünf Millionen Gebäude werden binnen weniger Minuten beschädigt, beinahe sechs Millionen Menschen obdachlos und Tausende Kinder unter den Trümmern ihrer Schulen begraben.
Als Ai Weiwei von der Katastrophe erfährt, begibt er sich in die Region, um das Ausmaß der Tragödie zu begreifen. Er recherchiert, führt Interviews vor Ort. Es wird klar, dass grobe Fahrlässigkeit beim Bau und Korruption zu schweren Mängeln an den Schulgebäuden geführt haben, was deren Einsturz mit verursacht hat. Die Angelegenheit wird zum brisanten Politikum – wenige Wochen vor den mit viel Propaganda beworbenen Olympischen Sommerspielen in Peking. Beim Versuch, eine Liste aller Todesopfer zu erhalten, stößt Ai auf massiven Widerstand und startet auf eigene Initiative eine Bürgerbefragung. In den folgenden zwei Jahren fahren er und etliche Freiwillige in 74 Gemeinden, sammeln Informationen, sprechen mit den leidtragenden Eltern und untersuchen den Zustand von 153 betroffenen Schulen. Dabei werden die Helfer wiederholt von der Polizei eingeschüchtert und teils verhaftet. Schließlich ermitteln sie Name, Alter, Schule und Klasse der 5197 ums Leben gekommenen Schülerinnen und Schüler. Die Daten werden laufend auf dem Blog des Künstlers veröffentlicht. Den chinesischen Behörden ist der regimekritische Blog schon länger ein Dorn im Auge. Er wird zunächst zensiert und 2009 komplett gesperrt; Ai wird als Dissident aus dem chinesischen Internet eliminiert.

Names of the Student Earthquake Victims Found by the Citizens’ Investigation / Namen der beim Erdbeben ums Leben gekommenen Schulkinder, ermittelt durch die Bürgeruntersuchung

Ai ist es ein großes Anliegen, die Ereignisse und Opfer des Erdbebens von Sichuan nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und an die Umstände der Katastrophe zu gemahnen. Mit der Veröffentlichung und Sichtbarmachung der Personendaten, dieser erschreckend langen Liste von Kindern, die jäh aus dem Leben gerissen worden sind, macht er uns jedes einzelne Individuum hinter der Gesamtopferzahl bewusst.

Forge / Schmiede

Auf dem Campus der Mittelschule von Beichuan, wo die meisten Kinder verunglückt sind, lässt Ai Unmengen an verbogenen Armierungseisen einsammeln und in sein Studio in Peking bringen – als sichtbare Zeichen für die minderwertige Bauweise der Schulen. Mit dem englischen Titel Forge, zu Deutsch „Schmiede“ oder „formen“, mit dem aber ebenso „fälschen“ oder „verfälschen“ gemeint sein kann, werden die großflächig auf dem Boden verteilten krummen Eisenstäbe zum Mahnmal.

Ai Weiwei
Forge (Detail), 2008-2012
Eisen
Privatsammlung
Foto: Albertina, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei
Forge (Detail), 2008-2012
Eisen
Privatsammlung
Foto: Albertina, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei

Little Girl’s Cheeks / Die Wangen des kleinen Mädchens

Als Teil von Ais Bürgerbefragung lässt der Film Betroffene des Erdbebens zu Wort kommen: Lehrer, die von den Baumängeln an den Schulen berichten, Kinder, die zu Zeugen der entsetzlichen Katastrophe wurden. Eltern, die Näheres zum Tod ihrer Kinder in Erfahrung bringen wollten, erzählen, dass ihnen dies nicht nur verwehrt wurde. Sie wurden zudem von der Polizei festgehalten und dazu genötigt, per Unterschrift auf jeglichen Einspruch zu verzichten.

Panda to Panda / Panda an Panda

Für Panda an Panda arbeitet Ai Weiwei mit Jacob Appelbaum zusammen, jenem Journalisten und Experten für Computersicherheit, der mitaufdeckt hat, dass die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel vom amerikanischen Geheimdienst NSA abgehört wurde. Das Werk besteht aus zwanzig Panda-Stofftieren, gefüllt mit geschredderten Kopien vertraulicher, von Whistleblower Edward Snowden geleakter Dokumente sowie einem Backup auf Micro-SD-Speicherkarte. Beim Schreddern und Füllen der Stofftiere fotografieren und filmen Ai und Appelbaum sich unentwegt. Zusätzlich lassen sie das Geschehen durch Laura Poitras dokumentieren, woraus ihr Kurzfilm The Art of Dissent [Die Kunst des Widerspruchs] entsteht. Die Idee ist, die Pandas als Datenbackup an so viele unterschiedliche Plätze wie möglich zu schicken. Als besonders sicherer Ort erweisen sich Museen, wo das Kunstwerk samt Dateninhalt bewahrt werden kann. In der Folge werden Exemplare an Aktivisten auf der ganzen Welt verteilt, darunter Julian Assange und Edward Snowden selbst.

Der Titel Panda an Panda nimmt einerseits Bezug auf Peer-to-Peer-Netzwerke (P2P), eine Form der dezentralen und egalitären Kommunikation. Mit „Panda“ wird in China jedoch auch die geheime Staatspolizei bezeichnet. Zum Zeitpunkt des Projekts stehen sowohl Ai als auch Appelbaum unter staatlicher Überwachung. Ihre Reisefreiheit ist eingeschränkt. Ai darf nach der Freilassung aus seiner geheimen Gefangenschaft im
Jahr 2011 China nicht verlassen. Appelbaum ist als ein früher Unterstützer von WikiLeaks seit 2010 immer wieder polizeilichen Verhören ausgesetzt, Mobiltelefon und Computer sind beschlagnahmt oder manipuliert worden. Mit ihrem gemeinsamen Projekt unter kompletter Überwachung bei gleichzeitiger Transparenz legen sie Daten offen und machen bewusst, dass auch das Treiben der Machthaber unter Beobachtung steht.

Untitled (after Rubens) / Ohne Titel (nach Rubens)

Dieses Werk ist eine Lego-Nachbildung des berühmten Gemäldes Der Raub der Töchter des Leukippos (1618) von Peter Paul Rubens. Den Putto am linken Rand ersetzt Ai durch einen Panda, der dem Geschehen nun am Rande unbemerkt beiwohnt. Dass der Künstler bekannte Werke, Ikonen der westlichen Kunstgeschichte, heranzieht, sehen wir in einigen seiner jüngsten Lego-Arbeiten. Er verändert sie leicht und passt sie
dadurch an die Themen der heutigen Zeit an.

Assange’s Treadmill / Laufband von Assange

Für Ai Weiwei erfüllt der investigative Journalismus in einer Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle. Daher ist er stets ein Unterstützer von Julian Assange, dem Gründer der Enthüllungsplattform WikiLeaks, deren Ziel es ist, geheim gehaltene Dokumente der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. 2012 erhält Assange Asyl von Ecuador und verbringt die folgenden sieben Jahre als politischer Flüchtling in der ecuadorianischen Botschaft in London. Dort besucht Ai Assange im Sommer 2016, um ihn zu interviewen. Im Oktober erhält er als Geschenk dessen Laufband, das Ai in der Folge zum Kunstwerk im Sinn eines Readymade erklärt.

Ai Weiwei
Assange‘s Treadmill, 2017
Metall, Plastik und Gummi
Privatsammlung
Foto: Courtesy Ai Weiwei Studio © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei
Assange‘s Treadmill, 2017
Metall, Plastik und Gummi
Privatsammlung
Foto: Courtesy Ai Weiwei Studio © 2022 Ai Weiwei

Wer selbst nie die Erfahrung gemacht hat, auf kleinstem Raum eingesperrt zu sein – ohne zu wissen wie lange –, kann sich diesen Zustand nur annähernd vorstellen. Ai und Assange teilen dieses einschneidende Erlebnis. Das Laufband als eine Art elektrisches Hamsterrad, bei dem man sich niemals von der Stelle bewegt, führt uns die tagtägliche Monotonie und Aussichtslosigkeit dieser Situation vor Augen.

I can’t breathe / Ich kann nicht atmen

Im Oktober 2018 sucht der saudi-arabische Journalist Jamal Khashoggi sein Konsulat in Istanbul auf, um Dokumente für seine Heirat abzuholen. Er sollte den Ort nicht mehr lebend verlassen. Auf Tondokumenten ist zu hören, wie Khashoggi, der als Kritiker des saudischen Kronprinzen gilt und im Exil in den USA lebt, gefoltert und dann getötet wird. Seine letzten Worte lauten „Ich kann nicht atmen“ – jene Worte, die unter vielen anderen auch Eric Garner 2014 und George Floyd 2020 bei ihrer Ermordung in den USA durch Polizisten von sich geben und die zur Parole der Bewegung „Black Lives Matter“ werden. Ai Weiwei fügt die Worte in seiner Legoarbeit von 2019 in arabischer Schrift in die Flagge Saudi-Arabiens ein und macht diese zu einem Banner für das Recht auf freie Meinungsäußerung. Er richtet sich damit dezidiert gegen Regime, die ihren Kritikern im
wahrsten Sinn des Wortes die Luft zum Atmen nehmen.

The Cover Page of The Mueller Report / Das Deckblatt des Mueller Reports

Am 22. März 2019 legt der Sonderermittler und ehemalige Direktor des FBI Robert Mueller dem amerikanischen Justizministerium die Ergebnisse und Schlussfolgerungen seiner Untersuchungen vor. Der umgangssprachlich als „Mueller-Report“ bezeichnete Bericht befasst sich mit der russischen Einflussnahme auf die amerikanische Präsidentschaftswahl 2016, aus der Donald Trump als Sieger hervorgegangen ist. Das Dokument, das kurz darauf zensiert veröffentlich wird, kommt zu dem Fazit, dass es zwar versuchte Einflussnahme von staatlichen russischen Akteuren gegeben hat, eine Kooperation vonseiten Trumps kann allerdings nicht belegt werden. Ob Trump hier Ermittlungen der Justiz behindert hat, lässt das Dokument offen und führt Indizien sowohl für als auch gegen diese These an. Trump, der die Ermittlungen im Vorfeld als „Hexenjagd“ bezeichnet hat, wertet den Bericht als Entlastung in allen Anschuldigungspunkten.
Im selben Jahr entsteht dieses Werk Ai Weiweis, das in unübersehbarer Größe das Deckblatt des Berichts aus Legosteinen zeigt. Mit seinem Pixeleffekt erscheint es wie eine stark vergrößerte und dadurch unscharf gewordene Digitalaufnahme.

U.S. MAIL / US-Post

Auch der Briefkasten der US-Mail ist einen Kommentar zu den Abläufen der Präsidentschaftswahl in den USA. 2020 steht Trump der Briefwahl kritisch gegenüber und erklärt, dass diese zu Wahlfälschungen führen wird. Er bekennt zudem, aus diesem Grund dem US Postal Service notwendige Gelder vorenthalten zu haben, um damit die fristgerechte Zustellung der Briefwahlunterlagen zu torpedieren. Nachdem sich ein Wahlverlust für ihn abzeichnet, erklärt er die Wahlen zur „big lie“, zur gestohlenen Wahl. Viele republikanische Wählerinnen und Wähler fühlen sich daher noch heute um die Wahl betrogen. Hinweise auf tatsächlichen Wahlbetrug gibt es jedoch keine. Ai begreift den Briefkasten als Statement – für freie Wahlen und für demokratische Rechte.

Snake Ceiling / Schlangen Decke

Während seiner Anwesenheit nach dem Erdbeben in Sichuan entdeckt Ai mit Entsetzen die vielen Schultaschen, die zwischen den Trümmern der eingestürzten Schulen liegen. Sie sind Anlass für diese Deckenskulptur, für die der Künstler rund 1000 schwarz-weiße Rucksäcke mit neongrünen Gurten so zusammenfügt, dass sich eine gemusterte Schlange ergibt, ein meterlanges bedrohliches Untier über unseren Köpfen.

Erste Verhaftung

Im August 2009 reist Ai nach Chengdu, um bei einer Gerichtsverhandlung zugunsten von Tan Zuoren auszusagen. Der Aktivist hat zu den Baumängeln an Schulen recherchiert, die während des massiven Erdbebens in Sichuan 2008 eingestürzt sind, woraufhin ihm „Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt“ vorgeworfen wird. Letztlich wird er zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Seine Mitstreiter werden durch Festnahmen daran gehindert, als Zeugen am Prozess teilzunehmen. Auch Ai und sein Team werden bereits ab ihrer Ankunft in Chengdu verfolgt und gefilmt. Um 3 Uhr morgens hämmert schließlich die Polizei an Ais Hotelzimmertür. Man durchsucht den Raum und schlägt ihn so, dass er eine schwere Kopfverletzung erleidet. Anschließend wird er in Gewahrsam genommen. Im Lift nach unten gelingt es ihm, mit seinem Handy das Spiegelbild der Szene zu fotografieren und zu posten. Auf dem Selfie, das über die sozialen Medien verbreitet wird, sind hinter ihm die beiden Polizisten sowie sein Freund, der Musiker und Künstler Zuoxiao Zuzshou, der ihn nach Chengdu begleitet hat, zu sehen. Das Foto, das Ai später in Form dieser Lego-Arbeit umsetzt, verdeutlicht die zunehmende Bedeutung, die Smartphones und soziale Medien für den Aktivismus spielen. Es markiert den für Ai buchstäblich erhellenden Moment, in dem der Künstler zum verfolgten Regimekritiker wird.

Disturbing the Peace / Unruhe stiften

Während des Prozesses gegen den Bürgerrechtler Tan Zuoren kommt es zu polizeilichen Festnahmen von Zeuginnen und Zeugen, darunter Ai selbst. Der Film dokumentiert die Ereignisse und wie Ai mit Polizei und Behörden auf Konfrontation geht, um konkrete Informationen zum Verbleib der Zeugen und zu den Vorfällen insgesamt zu erhalten.

Gefangennahme

Am 3. April 2011 wird Ai Weiwei am internationalen Flughafen in Peking von der chinesischen Geheimpolizei verhaftet und eingesperrt. 81 Tage lang weiß er nicht, wo er sich befindet, weshalb er festgehalten wird, wie lange seine Inhaftierung andauern und ob er seine Familie je wiedersehen wird. Mehrmals täglich wird er mit Handschellen an einen Stuhl gefesselt und verhört. Zwei uniformierte Wachmänner stehen ununterbrochen in einem Abstand von 80 Zentimetern neben ihm und überwachen ihn rund um die Uhr, ohne zu sprechen und ohne jede Gesichtsregung. In der karg eingerichteten Zelle ist das Inventar – Tisch, Stuhl, Waschbecken und Toilette – mit Schaumfolie umwickelt, selbst die Wände sind damit verkleidet. Das Licht im Raum ist niemals ausgeschaltet. Nachdem ihm der Wunsch, seinen Anwalt zu kontaktieren, wiederholt verweigert wird, antwortet Ai schließlich auf die Standardfrage, ob er etwas benötige, mit der Bitte nach einem Kleiderbügel, um seine selbstgewaschene Wäsche aufhängen zu können. Der Plastikkleiderbügel, der ihm folglich gewährt wird, ist eine kleine Errungenschaft, eine Art Etappensieg. Nach seiner Haft setzt Ai Kleiderbügel und Handschellen in Jade, Marmor und Holz als Kunstwerke um.

Ai Weiwei
Handcuffs, 2012
Jade
Private Collection
Photo: The ALBERTINA Museum, Vienna / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiw
Ai Weiwei
Handcuffs, 2012
Jade
Private Collection

Photo: The ALBERTINA Museum, Vienna / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei

Während der 81 Tage prägen sich Ai die Gegebenheiten der Zelle bis ins kleinste Detail ein. Er baut den Raum später nahezu in Originalgröße als begehbare Installation nach. Kameras übertragen dabei das Geschehen im Inneren auf außen montierte Bildschirme.

S.A.C.R.E.D.

Auch S.A.C.R.E.D. greift die Situation von Ai Weiweis geheimer Gefangenschaft auf. Jedes der sechs Dioramen zeigt eine Szene seines sich stets wiederholenden Alltags, wobei die Titelbuchstaben den jeweiligen Szenen zugeordnet sind und aneinandergereiht ein Akronym bilden: S für „Supper“ (Abendmahl) zeigt Ai bei Tisch; A für „Accusers“ (Ankläger) bezieht sich auf die wiederholten Verhöre; C für „Cleansing“ zeigt ihn beim Duschen, R beim „Ritual“ des Auf- und Abgehens in der Zelle; E für „Entropy“ meint einen Zustand des Schlafens; und bei D für „Doubt“ sieht man den Künstler auf der Toilette sitzen – stets unter den Augen seiner zwei Bewacher.

Ai Weiwei
S.A.C.R.E.D. (i) S upper, 2013
1 of 6 dioramas in fiberglass and iron
Courtesy of the artist and Lisson Gallery
Photo: Courtesy Ai Weiwei Studio and Lisson Gallery © 2022 Ai Weiwei

S.A.C.R.E.D., was eigentlich „heilig“ bedeutet, verweist auf den Homo sacer und beschreibt damit eine Person, die im römischen Strafrecht als vogelfrei galt, willkürlich verhaftet oder straffrei getötet werden durfte. Durch Sichtfenster, die oben oder an den Seiten der Dioramen angebracht sind, lassen sich die Szenen betrachten, wodurch wir selbst die Rolle von Überwachenden einnehmen und als solche in die Privatsphäre des Künstlers eindringen. Mit den Schaukästen hat der Künstler einen Weg gefunden, auf leicht verständliche Weise, wie in einem Puppenhaus, seinen Gefängnisalltag zu veranschaulichen, um gleichzeitig die Unverfrorenheit zu begehen, seine Haftbedingung in Form eines Kunstwerks öffentlich zu machen.

Dumbass / Vollidiot

Ai kommt am 22. Juni 2011 ohne formelle Anklage aus seiner Gefangenschaft frei, wird jedoch unter Hausarrest gestellt und weiterhin überwacht; sein Reisepass wird beschlagnahmt. Zwei Jahre später veröffentlicht er mit Zuoxiao Zuzhou das Progressive-Rock-Musikvideo Vollidiot, in dem er durchaus selbstironisch die Umstände seiner Gefangenschaft beschreibt und dabei scharfe Kritik an der Politik
Chinas übt.

The Animal that Looks like a Llama but Is Really an Alpaca / Das Tier, das wie ein Lama aussieht, aber eigentlich ein Alpaka ist

In Mandarin ähneln die Wörter „cào nǐ mā“, wörtlich „Fick deine Mutter“, dem Wort „Cǎonímǎ“. Es bezeichnet das Grasschlammpferd, eine Unterart des Alpakas. Im Internet wird es häufig verwendet, um eine mögliche Zensur zu umgehen. Das hat dazu geführt, dass das Alpaka zum kultigen Symbol für den Kampf um freie Meinungsäußerung geworden ist. Auf seiner goldfarbenen Tapete vereint Ai Weiwei das Alpaka mit Twitter Vogel, Handschellen und Überwachungskameras.

Möbelskulpturen

Mit dem kulturellen Erbe und dem Umgang mit Kulturgütern befasst sich Ai Weiwei auch in seinen Arbeiten aus Holz. Für die Möbelskulpturen greift er auf traditionelle chinesische Einrichtungsgegenstände zurück und lässt diese von versierten Tischlern nach seinen Vorstellungen umbauen. Dabei legt er Wert darauf, dass die gleichen historischen Kunsthandwerkstechniken verwendet werden, die bereits seit Ewigkeiten in Chinas Möbelherstellung Anwendung finden, wobei unsichtbare Steckverbindungen die einzelnen Teile zusammenhalten und die Arbeitsweise dem Material folgt. Nichts Neues wird hinzugefügt, nichts Altes, das entfernt wurde, geht endgültig verloren.

Ai Weiwei
Grapes, 2011
40 Holzstühle
Privatsammlung
Foto: Albertina, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei

Durch die Neuanordnung verlieren die Möbel ihre Funktionalität. Sie werden auf eine schockierende Weise zwecklos, indem sie vom realen Gebrauch ausgeschlossen werden. Als Kunstwerke erfüllen sie jedoch nun einen neuen Zweck. Die Werkgruppe aus bizarren Tischen und surrealen Arrangements einfacher Sitzhocker knüpft in ihrem Witz an Ais frühe Arbeiten in New York an, an den Dadaismus und dessen Lust an der Zerstörung. Ein Tisch springt mit drei Beinen in die Ecke, ein anderer lehnt sich faul an die Wand.

Marmor

Wenn Ai Weiwei Skulpturen aus Marmor anfertigen lässt, geht es ihm darum, den Objekten, die er nachbildet, im wahrsten Sinn des Wortes mehr Gewicht zu verleihen, sie zu Monumenten zu machen. Der vom Künstler verwendete Marmor stammt aus dem Taihang-Gebirge in Fangshan, einem Stadtteil von Peking, wo der reinweiße Stein seit mehr als eintausend Jahren abgebaut wird, um daraus Paläste, Tempel und Denkmäler zu schaffen. Wie in Europa gilt Marmor in China als Symbol für Macht, Erhabenheit, Beständigkeit und Ewigkeit. Daher kommt das Material auch unter kommunistischer Führung zur Anwendung, wie am Beispiel des Mausoleums von Mao Zedong zu sehen ist. Ai bezieht sich bei der Verwendung von Marmor auf diese Zuschreibungen und spielt mit unserer Wahrnehmung.

Ai Weiwei
Marble Sofa, 2011
Marmor
Privatsammlung
Foto: ALBERTINA, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei
Marble Sofa, 2011
Marmor
Privatsammlung
Foto: ALBERTINA, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei

Das Marmor-Sofa, das wie ein knautschiger, schon leicht durchgesessener Lederfauteuil aussieht, entpuppt sich als kalte, harte und daher zum Sitzen eher unbequeme Steinskulptur. Der Künstler bezieht sich hier auf ein spezifisches Sofamodell, das in den 1970er-Jahren in Millionen von Wohnzimmern zu finden war und
das für die chinesische Mittelschicht zum Zeichen für häuslichen Komfort und gesellschaftlichen Status wurde. Es lässt aber ebenso an jenen marmornen Lehnsessel denken, in dem der Vorsitzende Mao, ebenfalls in Stein emeißelt, im Vorzimmer seines Mausoleums thront.

Marble Doors / Marmortüren

Die Marmortüren sind an hölzerne Türen angelehnt, die aus Häusern im traditionell chinesischen Hutong-Stil stammen. Im Zuge der Stadterneuerung wurden und werden diese abgerissen, um größeren Wohneinheiten Platz zu machen. Auf den großen Müllhalden der Großstädte sind Türen dieser Art daher massenweise zu finden. Durch den Nachbau in Marmor gibt Ai dem ausrangierten Inventar Bestand und stellt die radikale Modernisierung Chinas in Frage.

Circle of Animals / Zodiac Heads / Tierkreis-Zeichen / Zodiak-Köpfe

Im Yuanming Yuan, dem Alten Sommerpalast bei Peking, gab es einen Garten- und Palastbereich, der nach europäischem Vorbild von Jesuiten entworfen worden war. Teil davon war eine Wasseruhr, ein Brunnen mit zwölf Wasserspeiern, wobei jeder Kopf einem chinesischen Tierkreiszeichen entsprach. Während des Zweiten Opiumkriegs im Jahr 1860 wurde der Alte Sommerpalast von englisch-französischen Truppen in einem Vergeltungsschlag weitgehend zerstört und geplündert. Auch die Köpfe der Brunnenfiguren wurden entfernt. Einige gelten seither als verschollen, andere befanden sich in Privatbesitz und tauchten erst in den letzten Jahren bei Auktionen auf, wo sie um Millionenbeträge verkauft wurden. Da die Zerstörung des Yuanming Yuan in der chinesischen Bevölkerung als Trauma nachwirkt und der Verkauf der Tierköpfe von vielen als ein Bohren in offenen Wunden empfunden wird, wurden die Auktionen von Protesten begleitet, die die Rückgabe der Nationalschätze forderten. Ein Kopf stellte sich als Fälschung heraus, sieben der zwölf Köpfe befinden sich inzwischen in chinesischen Museen.

Ai Weiwei
Circle of Animals/Zodiac Heads (Gold), 2010
12 bronze statues with gold plating, wooden bases
Private Collection
Photo: The ALBERTINA Museum, Vienna / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei
Circle of Animals/Zodiac Heads (Gold), 2010
12 bronze statues with gold plating, wooden bases
Private Collection

Photo: The ALBERTINA Museum, Vienna / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei

Die vergoldeten Bronzeköpfe Ai Weiweis entsprechen einer Neuinterpretation der Figuren. Für ihn wirft der Tierkreisbrunnen eine Reihe von Fragen zum Umgang mit Kulturgütern, zu den Beziehungen zwischen West und Ost sowie zur Differenzierung zwischen Original, Nachahmung und Fälschung auf. Aus seiner Sicht stellen die Tierköpfe keine nationalen Schätze dar, da hier Europäer den chinesischen Geschmack bedienten, weshalb sie ein frühes Beispiel für globalen Konsum darstellen. Der Künstler hat die Tierköpfe nach seinen eigenen Vorstellungen nachgebaut, um den Kreis wieder zu vervollständigen und um mit seinen Kopien auch das Original zu hinterfragen.

Zodiac / Tierkreis-Zeichen

Den chinesischen Tierkreis realisiert Ai auch aus Lego. Die Köpfe entsprechen jenen seiner vergoldeten Tierkreiszeichen. Hinzu kommt, dass jedem der zwölf Tiere ein Hintergrund zugeordnet ist: Es sind jene Machtmonumente, denen Ai in der Fotoserie zur Perspektivstudie seinen Mittelfinger entgegenstreckt. Der Hund hat das Weiße Haus in Washington als Kulisse, während hinter dem Schwein der Eiffelturm in die Höhe ragt und der Kamm des Hahns die Architektur der Oper in Sydney aufgreift. Westliche und östliche Ikonen werden miteinander verschränkt. In ihren grellbunten Farben erinnern die Legobilder an die Siebdrucke Andy Warhols.

Krieg, Flucht und Migration

Im Juli 2015 erhält Ai Weiwei von den chinesischen Behörden seinen Pass zurück und darf wieder frei reisen. Er zieht nach Berlin und erlebt dort im Herbst die Auswirkungen der Flüchtlingskrise und die damit verbundenen politischen Diskussionen in Europa. Bei einem Urlaub im Dezember auf der griechischen Insel Lesbos sieht er die ankommenden Boote, die mit Jungen, Alten und Kranken überfüllt sind, und besucht daraufhin das dortige Lager Moria. Er beschließt, sich stärker zu engagieren, verlegt sein Studio nach Lesbos, beginnt zu recherchieren und zu filmen. Viele von Ais Werken sind im Zuge dieser Recherche entstanden, darunter diese Säule aus Porzellan. Auf ihr finden sich sechs Motive zur Situation Flüchtender: Krieg, die Ruinen des Krieges, die Flucht, die Überquerung des Meeres, die Flüchtlingslager sowie die Demonstrationen und Proteste in den Lagern. Die Darstellungen erinnern an jene auf antiken ägyptischen und griechischen Töpferwaren, das blau weiße Dekor greift das von traditionellem chinesischem Porzellan auf. Durch diese Bezüge stellt Ai die abgebildeten Szenen in einen historischen Kontext.

Flucht (Zitat von Ai Weiwei)

„Heutzutage sehen sich immer mehr Menschen gezwungen, ihre angestammte Heimat zu verlassen, und zwar aus allen möglichen Gründen – Krieg, religiöse Diskriminierung, politische Verfolgung, Zerstörung der Umwelt, Hunger, Armut. Wird es uns jemals gelingen, diese Geißeln aus der Welt zu schaffen? Kann eine Zivilisation, die auf dem Unglück anderer aufgebaut ist, ewig weiter bestehen? Und wer kann sich sicher sein, nicht selbst eines Tages seine Heimat verlassen zu müssen und an einer fremden Küste ausgesetzt zu werden, nur um dort auf Diskriminierung zu stoßen und gezwungen zu sein, um Mitleid zu betteln?“

The Navigation Route of the Sea-Watch 3 Migrant Rescue Vessel / Navigationsroute des Flüchtlingsrettungsschiffs Sea-Watch 3

Diese Lego-Arbeit erscheint zunächst wie ein abstraktes Gemälde oder eine Zeichnung. Zu sehen ist jedoch die Navigationsroute des Seerettungsschiffs Sea-Watch 3. Im Juni 2019 birgt es unter dem Kommando von Kapitänin Carola Rackete 53 Flüchtende vor der libyschen Küste. Beim Versuch, die Geretteten an einen sicheren Ort, den Hafen von Lampedusa, zu bringen, wird das Schiff zwei Wochen lang von italienischer Seite am Einlaufen gehindert.

Nachbildungen aus Marmor und Porzellan

Oft verfügen Ais Marmorobjekte neben einem persönlichen auch über einen gesellschaftlichen oder politischen Kontext. So imitiert der fragile Marmorstuhl, der aus einem einzigen Block Marmor gefertigt ist, einen traditionellen hölzernen Stuhl mit Joch-Rückenlehne. Auch Ais Familie hat einen solchen Stuhl besessen. Er zählt zu den wenigen Gegenständen, die sein Vater Ai Qing mitnehmen darf, als er 1958 in die Verbannung geschickt wird.

Ai Weiwei
Surveillance Camera with Plinth, 2015
Marmor
Privatsammlung
Foto: Albertina, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei
Surveillance Camera with Plinth, 2015
Marmor
Privatsammlung
Foto: Albertina, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei

Der Bauhelm erinnert an jene Helme, die nach dem desaströsen Erdbeben in Sichuan 2008 von den Helfenden bei der Suche nach Überlebenden getragen wurden. Tatsächlich bezieht sich der Künstler aber hiermit auf ein ganz anderes Ereignis: den Einsturz einer Kohlemine, bei dem ein Arbeiter verschüttet wurde. In der Annahme, nicht mehr rechtzeitig gefunden zu werden, notiert er im Helminneren die Bitte an seine Frau, die Kinder alleine aufzuziehen und einen geringen Geldbetrag, den er sich geliehen hat, zurückzuzahlen.

In Zeiten der Ming-Dynastie (1368–1644) herrscht im Kaiserhaus die Mode, banale Gegenstände aus edlen Materialien nachzubilden. Zwar erfüllen sie keinen konkreten Nutzen, heben aber den Reichtum und das Ansehen des Herrscherhauses hervor. Dies greift Ai auf, wenn er ein simples Spielzeugauto, das Geschenk eines Künstlerkollegen an seinen damals einjährigen Sohn, aus Marmor reproduziert, wodurch er die Geste der
Freundschaft auf ein Podest hebt. Ähnliches gilt für die beiden Wassermelonen. Sie erinnern an die Zeit der Verbannung in der Wüstenregion in Xinjiang. Dort lebte Ai mit seinem Vater unter ärmsten Verhältnissen in einem unterirdisch gelegenen Unterschlupf. Im Rückblick auf diese schweren Jahre bleibt der Genuss dieser besonders süßen Früchte für Ai einer der seltenen Lichtblicke.

Odyssey / Odyssee (Zitat von Ai Weiwei)

„Der Kontext der Flüchtlingskrise ist wesentlich breiter. Unterschiedliche Geschichten, regionale und religiöse Konflikte, wirtschaftlicher Druck und Umweltkrisen haben zu dem beigetragen, was wir als Flüchtlingskrise begreifen. Mein Team und ich untersuchten dies, beginnend bei den frühesten menschlichen Wanderungsbewegungen, die bis ins Alte Testament zurückreichen. Besonders für die Tapete versuchten wir eine visuelle Sprache zu entwickeln, die unmittelbar beeinflusst war von frühen griechischen und ägyptische Reliefschnitzereien, Tongefäßen und Wandmalereien.“

Ai Weiwei
Odyssey, 2017
Wandtapete
Courtesy of the artist
Foto: Courtesy Ai Weiwei Studio
Ai Weiwei
Odyssey, 2017
Wandtapete
Courtesy of the artist
Foto: Courtesy Ai Weiwei Studio

„In diesen Kontext setzten wir die neuen Konflikte mit Bildern, die wir auf Social Media und im Internet fanden, sowie Bildern von Ereignissen, in die ich selbst involviert war. Jenseits der Bilder zogen wir auch Literatur sowie die politischen Verhältnisse der verschiedenen Epochen in Betracht. Es dauerte über ein halbes Jahr, bis die Zeichnung vollendet war. Sie bezieht sich auf sechs Themen: Krieg, die Ruinen des Krieges, die Reise der Flüchtenden, die Überquerung des Meeres, die Flüchtlingslager sowie die Demonstrationen und Proteste.“

Refugee Camp Power Supply / Ladestation eines Flüchtlingslagers

Dieses Fundstück, das Ai Weiwei zum Kunstwerk deklariert, stammt aus einem aufgelassenen provisorischen Flüchtlingslager in Idomeni. Die Telefonzentrale zählt in jedem Lager, wo Kommunikation alles bedeutet, zum belebtesten Ort, an dem Tausende von Menschen versuchen, mit ihren in der Heimat zurückgelassenen Familien in Kontakt zu treten, sich über die beste Route nach Europa zu informieren oder um an Ladestationen wie dieser ihr Handy aufzuladen.

Crystal Ball / Kristallkugel

Bei seinem Aufenthalt auf Lesbos sieht Ai im Dezember 2015 das Ufer der Insel mit Schwimmwesten und Bojen übersät, die von den Flüchtlingen bei ihrer Überquerung des Mittelmeers benutzt worden sind. Schwimmwesten tauchen daher in einigen seiner Installationen und Skulpturen zum Thema Flucht auf. Hier bilden die Westen eine Lotos- oder Seerosenblüte, in deren Mitte eine Kristallkugel ruht. Vielleicht gewährt sie einem nach Krieg und Not, nach dem Verlassen der Heimat einen Blick in die ungewisse Zukunft.

Ai Weiwei
Crystal Ball, 2017
Kristall, Rettungswesten
Courtesy of the artist and neugerriemschneider, Berlin
Foto: Courtesy Ai Weiwei Studio © 2022 Ai Weiwei
Ai Weiwei
Crystal Ball, 2017
Kristall, Rettungswesten
Courtesy of the artist and neugerriemschneider, Berlin
Foto: Courtesy Ai Weiwei Studio © 2022 Ai Weiwei

Tyre / Reifen

Mit diesem Werk setzt der Künstler jenen ein Denkmal, die ihr Leben während der Flucht über das Mittelmeer verloren haben. Allein im Jahr 2021 sind dabei über 1500 Menschen verstorben, der Großteil ertrunken. 2016 waren es mehr als 5000. Die übereinandergestapelten Rettungsringe aus Marmor sollen dieser Opfer gedenken, die alles für die Suche nach einem besseren Leben für sich und ihre Angehörigen riskiert haben. Das gewählte Material vermittelt aber auch die Gefühlskälte, mit der den Flüchtenden in Europa begegnet wurde und wird.

After the Death of Marat / Nach dem Tod des Marat

Im September 2015 ertrinkt der kleine Aylan Kurdi, ein Bub syrischer Abstammung, im Alter von drei Jahren bei der Überfahrt nach Griechenland. Das Bild von seinem leblosen Körper am Strand von Bodrum geht um die Welt, Zeitungen drucken es als Titelseiten. Die Momentaufnahme bündelt die Tragik einer restriktiven Einwanderungspolitik. Auch Ai Weiwei lässt dieses Ereignis nicht unberührt. Wenige Monate später lässt er sich für das Magazin „India Today“ in der gleichen Pose fotografieren – was vielen zu weit geht und zu einem medialen Aufschrei führt. Manche halten das Nachstellen des Fotos für ethisch nicht vertretbar, andere werfen ihm vor, sich damit wichtig zu machen, das Schicksal des Jungen für seine Publicity nutzen zu wollen. Ai betont, dass er mit dem Foto die Not der Flüchtlinge erneut ins Bewusstsein rufen will. Er richtet sich gegen das Vergessen, gegen das Vergessen durch Gewöhnung. Aylans Vater dankt Ai später in einem persönlichen Brief für dieses Mahnmal, das dem Tod seines Sohnes gedenkt. Die von Ai eingenommene Körperhaltung entspricht zudem jener bei seiner eigenen Gefangennahme 2011, die der chinesische Künstler He Xiangyu im selben Jahr als lebensechte Skulptur unter dem Titel Der Tod des Marat verewigt hat. Mit der Legoarbeit Nach dem Tod des Marat, die das Foto von Ai am Strand wiedergibt, nimmt Ai auf die Skulptur und damit auf seine eigene Pose Bezug.

Floating / Treibend

Die drei Videosegmente filmt Ai auf Lesbos mit seinem iPhone. Die Sequenz „At Sea“ zeigt die Menschen in Booten, die versuchen, über das Meer nach Europa zu gelangen. In „Floating“ ist ein verlassenes Schlauchboot zu sehen, das Ai mitten auf dem Meer schwimmend entdeckt hat und das er in „On the Boat“ betritt und in Augenschein nimmt.

Human Flow / Menschenstrom

Ais Engagement und Aktivismus in Bezug auf Flüchtende findet in vielen seiner Werke Niederschlag, allen voran in Human Flow (Menschenstrom). Für diesen Dokumentarfilm in Spielfilmlänge drehen Ai und sein Filmteam über ein Jahr lang in 23 Ländern und 40 Flüchtlingslagern, wobei sie über 600 Interviews führen. Der Film vermittelt die Fluchtursachen und die Lebensbedingungen der Flüchtenden: die unzumutbaren Umstände in den Lagern, in denen es trotz allem so etwas wie einen Alltag gibt, die Strapazen der Flucht, Verzweiflung, Angst und Trauer. Er zeigt die Notsituation in den Grenzregionen und nimmt auch jene Länder in die Pflicht, die sich ihrer Verantwortung entziehen und damit gegen Flüchtlings- und Menschenrechtskonventionen verstoßen. Ais Anliegen ist es, das Ausmaß und die Auswirkungen dieser enormen humanitären Krise zu veranschaulichen.


Ausstellungsdaten
Ausstellungsdauer:16. März bis 4. September 2022
Ausstellungsort: ALBERTINA MODERN, Erdgeschoß
KuratorInnen: Dieter Buchhart, Kurator der Ausstellung
Elsy Lahner, Kuratorin der ALBERTINA
Werke: 144 Objekte

Öffnungszeiten: Täglich 10 – 18 Uhr
KuratorInnenführungen: 28.3.2022 | 16.30 Uhr | Dieter Buchhardt
26.4.2022 | 16.30 Uhr | Elsy Lahner
Filmprogramm im Stadtkino Wien: Im Rahmen einer Kooperation zeigt das Stadtkino sieben Filme von und mit Ai Weiwei. Termine unter www.stadtkino.at