Würden Ethnologen den Wintersport betrachten, sie kämen zu dem Schluss, dass Skifahren ein religiöser Ritus sei, der einzig dazu diene, die Götter der Berge zu besänftigen. Wie sonst wäre der Aufwand zu erklären? Der Mensch schlägt Schneisen in die Wälder, baut großklotzige Liftanlagen, sorgt mit Beschneiungsanlagen für weiße Pisten, stellt Hotelburgen in unwirtliches Gelände und bearbeitet mit monströsen Kettenfahrzeugen den Schnee. Und alles nur, um auf Brettern mehr oder weniger elegant den Hang hinabzugleiten. Jeder fremden Kultur muss dieses Skifahren unsinnig erscheinen, als etwas, das nur als religiöser Kult erklärbar ist – ähnlich dem Fußballspiel der Mayas mit großen Hüftgurten oder dem Opfern von Menschenherzen der Azteken.
Dabei liegt das Vergnügen im Bezwingen der Elemente. Analog den Surfern, die stundenlang im Meer auf ihrem Board liegen, auf die Welle warten, um dann für Augenblicke auf dem Ozean zu reiten, nimmt der Skifahrer einiges auf sich, zwängt sich in schlafsackartige Kleidung, Schuhe, die an mittelalterliche Folterinstrumente gemahnen, um Schneefelder in einer kargen Landschaft zu bewedeln, für Momente auf einer Messerspitze zu stehen, den Urgewalten mit schnellen, eleganten Schwüngen zu trotzen. Skifahren ist wie der Spitzentanz einer Ballerina auf eine wackeligen Sesselpyramide: die Zurschaustellung des Unmöglichen. Dafür erträgt man tränenreiche Stunden des Lernens und Leidens, Stürze, jedes Verletzungsrisiko. Skifahren ist Religion.
Mein Vater nahm vor 60 Jahren stundenlange Busreisen in Kauf, um einen Berg hochzusteigen und einmal, ein einziges Mal, hinabzufahren. In meiner Kindheit gab es unbequeme Sesselund Tellerlifte, die wegen der Preise bis zur letzten Minute auszunutzen waren. Wir hatten damals Wurstbrote und Thermoskannentee dabei. Es machte nichts, dass man an den Liften ewig anstand und abends durchnässt nach Hause kam. Wir Gläubigen des Skigottes trugen selbstgestrickte Pullover, alte Anoraks und hatten viel zu lange Ski von älteren Verwandten.
Heute ist das alles anders. Aus der Fortbewegung armer Bergbauern ist luxuriöse
Freizeitbeschäftigung geworden. Man wohnt in teuren Hotels mit Spabereich, lässt sich abends Filets vom schottischen Hochlandrind mit Cranberry-Vinaigrette und Safran-Risotto oder neuseeländischen Kabeljau auf Fenchelpüree mit Jakobsmuscheln servieren – selbstverständlich samt exquisiter Weinbegleitung. Die Ski haben einen Kern aus Gneis-Gestein und verwenden thermoplastische Kunststoffe aus dem Flugzeugbau, dazu Chromstahl und kanadisches Zedernholz, das bei Vollmond zum Äquinoktium geschlagen wurde – zu Preisen eines Kleinwagens. Dazu windkanalgetestete Stöcke aus einer Schweizer Präzisionsfabrik, individuell angepasste und beheizte Schuhe, Astronautenkleidung.
Es ist wie mit der Religion. Früher gab es arme Pilger und leidende Märtyrer, die unmenschliche Entbehrungen auf sich nahmen, um ihrem Gott zu dienen. Heute schwelgt die Kirche der Wintersportgläubigen in Prunk und Luxus, baut Bergstationen wie Kathedralen und Hotelanlagen wie Benediktinerstifte. Und die Weltreligion Wintersport will missionieren, expandieren. Wohin das führt? Zum Glaubenskrieg! Doch bis es dazu kommt, sollten wir demütig sein, genießen und beten, dass es noch ein paar Jahrzehnte lang so bleibt, weil schön ist es schon.
Franzobel ist ein österreichischer Schriftsteller. Er veröffentlichte zahlreiche Theaterstücke, Prosa und Lyrik. Seine Theaterstücke wurden unter anderem in Mexiko, Argentinien, Chile, Dänemark, Frankreich, Polen, Rumänien, der Ukraine, Italien, Russland und den USA gezeigt.
Sein großer historischer Abenteuerroman „Das Floß der Medusa“ (Zsolnay Verlag) wurde mit dem Bayerischen Buchpreis 2017 ausgezeichnet und stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2017
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