Albertina Wien: Michelangelo und die Folgen 15.9. – 14.1.2024

Der Meister der Renaissance: Michelangelo gehört zu jener Handvoll von Künstlern, deren Ruhm seit Jahrhunderten ungebrochen ist. Obwohl seine Kunst und seine Ideale zutiefst im Denken seiner Zeit – der Blütezeit der Renaissance und des fortschreitenden 16. Jahrhunderts – verwurzelt sind, reicht die Wirkung seiner Kunst bis in die Gegenwart.

Jedes Jahrhundert erlebt seine eigene Michelangelo-Renaissance und damit die Wiederbelebung jenes antiken Ideals, das der große Florentiner mit seinem Entwurf für das nie ausgeführte Fresko der Schlacht von Cascina, den Ignudi in der Sixtinische Kapelle und den Sterbenden Sklaven für das Grabmal von Papst Julius II. zu einem unübertroffenen Maßstab für den idealen Männerakt gemacht hat. Michelangelo und die Folgen handelt von der Entstehung und der Macht, dem Bedeutungsschwund und dem Verfall eines Kanons – jenes Kanons, den Michelangelo mit seinen Akten vor 500 Jahren nachhaltig prägt – und davon, wie die folgenden Generationen
sich an diesem Vorbild abgearbeitet haben.

Die Darstellung des menschlichen Körpers

Michelangelo Buonarroti Sitzender Jünglingsakt und zwei Armstudien um 1510/11
Rötel, weiß gehöht 28 x 19 cm
ALBERTINA, Wien

Die reichen Bestände der grafischen Sammlung der ALBERTINA erlauben eine Auseinandersetzung mit Michelangelos Ideal, welches sich auf eindrucksvolle Weise in seinen Zeichnungen wie in seinen Skulpturen als athletischer und kraftvoller Männerakt präsentiert, der von inneren Spannungen bis hin zum Zerreißen geprägt ist.

Der neue Status der Zeichnung als eigenständiges Kunstwerk im 15. Jahrhundert, das die künstlerische Idee und das Temperament des Künstlers wie ein Kondensat verdichtet, zeigt sich nicht zuletzt durch die hohe Nachfrage von Sammlern nach diesen Preziosen. Die Provenienz der Zeichnungen des Renaissancemeisters in der ALBERTINA weist im 17. Jahrhundert Peter Paul Rubens als Besitzer aus und unterstreicht die Bedeutung des
italienischen Genies in der folgenden Künstlergeneration.

Der klassische Akt, wie er uns in den Zeichnungen der ALBERTINA von Michelangelo über Raffael und Beccafumi bis zu Bandinelli, da Volterra oder Salviati selbstbewusst entgegentritt, trachtet immer schon nach dem harmonischen Ausgleich zwischen allgemeinen Formeln wie standardisierten Posen, dem Studium der Anatomie nach antiken Skulpturen oder der maßstäblichen Gliederung der Körperteile nach den formalisierten Proportionen des Vitruv einerseits und dem Zeichnen nach der Natur andererseits.

Michelangelo Buonarroti Studien für die Libysche Sibylle um 1510/11
Rötel 29 x 21 cm The Metropolitan Museum of Art, New York,
Purchase, Joseph Pulitzer Bequest, 1924, inv. no. 24.197.2
Foto: © bpk / The Metropolitan Museum of Art

Die zwei Künstler Rembrandt und Rubens prägen mit ihren gegensätzlichen Positionen den Barock. Rubens beschäftigt sich mit dem realen, lebenden Modell und erweckt die antike Nacktheit auf neue Weise zum Leben.
Rembrandt wiederum scheut nicht davor zurück, die Hässlichkeit des realen Körpers, des Menschen in seiner Vergänglichkeit und Schwäche, darzustellen. Damit setzt er einen starken Kontrast zu den athletischen Körpern des Buonarroti.

Im Klassizismus bleibt der Typus des schönen und muskulösen nackten männlichen Körpers, bestehen. Fast 200 Jahre nach dem Tod des florentinischen Meisters findet der michelangeleske Kanon seine Fortsetzung in der vorherrschenden Vorstellung des idealen Akts. Die Maler ihrer Zeit, wie Anton Raphael Mengs oder Pompeo Girolamo Batoni, schaffen Werke, die in der Präzision der Modellierung der Muskulatur, der Darstellung komplizierter Posen und der durch komplexe Körperhaltungen bedingten perspektivischen Verkürzungen auf Michelangelo zurückgehen. Sie erinnern besonders an die meisterhaften Zeichnungen, die mit Werken wie der
Schlacht von Cascina oder dem Deckenfresko in der Sixtinischen Kapelle in Verbindung stehen.

Ebenso sklavisch wie anachronistisch ahmen Künstler noch im Zeitalter Klimts und Schieles die heroischen, athletischen Gestalten nach: nur mehr äußerlich, an der Oberfläche, ohne die geistige Tiefe des Buonarroti. Der von Michelangelo geprägte Kanon hat seinen Zenit endgültig überschritten, da die Darstellung des männlichen Akts als Symbol eines heroischen Individuums in der modernen Gesellschaft immer weniger auf Resonanz trifft.
Die Schau steht unter dem historischen Vorzeichen, dass jahrhundertelang nur Männer Männer zeichnen, und auch Frauen nur von Männern dargestellt werden. Der Mann definiert den Kanon des Männerakts so sehr wie jenen des Frauenakts. Michelangelo selbst zeichnet kaum eine nackte Frau, sondern verleiht männlichen Körpern weibliche Anmut.

Die Frau ist für die Kunst wie die Rückseite des Mondes: Man weiß, dass sie existiert, sie ist aber
terra incognita. In einigen wenigen exemplarischen Beispielen aus dem 17. und 18. Jahrhundert wird in der Ausstellung das realitätsferne Ideal der Frau gezeigt. Lange Zeit wird die Darstellung der nackten Frau durch ihre Identifikation mit Laster, Sittenlosigkeit und Geschlechtstrieb diskriminiert und diffamiert. Die Sittenlosigkeit der Frau bringt Tod und Sünde in der Gestalt Evas; das Laster der Luxuria tritt eitel und nackt in Erscheinung. Die
Tugenden sind weithin in wallende Gewänder gekleidet. Das Gegenbild zur tugendhaft verhüllten Frau beschreibt die nackte Frau als Weibermacht, als Hexe, als verführerische Venus.

Der Ausblick am Ende der Ausstellung ist beispielhaft gewählt. Er steht stellvertretend für ein Jahrhundert, in dem Michelangelos Kanon seine Autorität verloren hat und widmet sich exemplarisch dem Gegensatz zwischen dem secessionistischen Schönheitskult anhand von Gustav Klimts kurvilinearer Idealität der Frau und der Hässlichkeit und Pathologisierung des erstmals seiner Sexualität nicht-beraubten Aktes bei Egon Schiele.

Egon Schiele
Mädchenakt mit verschränkten
Armen, 1910
Schwarze Kreide, Pinsel, Aquarell,
auf braunem Papier
45 x 28 cm
ALBERTINA, Wien

Ausstellungsdaten


Dauer: 15. September – 14. Jänner 2024
Ausstellungsort: Propter Homines Halle | ALBERTINA
Kuratorinnen: Klaus Schröder, Achim Gnann, Eva Michel, Martina Pippal, Constanze Malissa
Werke: 139
Katalog: Deutsch und Englisch (36,90) erhältlich im Shop der ALBERTINA
Kontakt: Albertinaplatz 1 | 1010 Wien |T +43 (0)1 534 83 0 | www.albertina.at
Öffnungszeiten: Täglich von 10.00 – 18.00 Uhr | Mittwoch und Freitag von 10.00 bis 21.00 Uhr