FRANZOBEL: Nebelland

Franzobel - Nebelland

Mögen Sie Nebel? Feuchte, graue Schwaden, die einem das Gefühl geben, in Wolkeneingeweiden herumzutappen? Vermutlich nicht. Trotzdem hat der Mensch einen Drang zur inneren Vernebelung, dem er mit diversen Rauschmitteln gerne nachhilft. 

Im oberösterreichischen Seengebiet, wo ich aufgewachsen bin, ist es nicht nur wunderschön, sondern auch grausig neblig. Das ganze Jahr hängt dort eine rauchgraue Suppe. Zu diesem Naturnebel gesellen sich der Industrienebel und der Hausbrand. Doch damit nicht genug, gibt es noch den Nebel vom Sauerkrautkochen. Die Oberösterreicher essen zu allem Sauerkraut – gerade, dass sie es nicht in den Kaffee geben und Kuchen damit belegen. Zum Rausch sagt man dort übrigens Dampf. 

„Der Kapitalismus schreitet voran und dehnt sich aus wie das Universum, von dem keiner weiß, wann es ansteht.“

Auch die Welt ist vernebelt. Gott ist zu Tode erklärt worden und die moderne Physik hat uns jede Gewissheit genommen – nicht einmal auf Raum und Zeit ist mehr Verlass. Die weltweiten Staatsschulden betragen 66 Billionen Euro, was bedeutet, dass jeder Mensch, kaum geboren, schon mit 8250 Euro in der Kreide steht. Das macht aber nichts, weil das Geld sowieso nie zurückgezahlt wird. Wir Konsumberauschten lassen anschreiben zulasten der Zukunft. Der Kapitalismus schreitet voran und dehnt sich aus wie das Universum, von dem keiner weiß, wann es ansteht. Dasselbe gilt fürs Internet, theoretisch ist alles Wissen verfügbar, aber gerade das verunsichert. Also sucht sich jeder einen Weg durch den Nebel, lechzt nach eindeutigen Erklärungen. 

Verschwörungstheorien feiern fröhliche Urständ, für Pubertierende ist es hip, das Geschlecht zu wechseln, alle anderen sind woke, vegan oder fühlen sich dem Rest der Welt moralisch überlegen. 

Franzobel - Nebelland

Alles, was die Klarheit trübt und verunsichert, wird sofort verdammt. Seit Corona darf nicht mehr differenziert werden, ganz egal ob es um den Krieg oder pädophile Schauspieler geht, jede abwägende Meinung wird als Whataboutism oder Verharmlosung niedergebrüllt. Nun ist die Bestimmung des Menschen aber zu leben und lautet seine erste Pflicht, das Leben zu achten, anstatt zu richten. Als Schriftsteller habe ich stets versucht, Leute zu verstehen, Lebensläufe nachvollziehbar zu machen, um zu begreifen, warum jemand so geworden ist, wie er ist. Das geht nicht mehr. Wer nur leise Zweifel an den Maßnahmen gegen Corona äußert, ist ein Impfleugner, Schwurbler, Volksschädling, und wer mit leisen Tönen ein Loblied auf den Pazifismus anstimmt, wird als Putinfreund diffamiert. Und wehe, man bemitleidet Täter. Dann ist es ganz aus. 

Die Welt will Klarheit, Sicherheit, und alles, was sie trübt, wird verdammt. Herauskommt eine Meinungsdiktatur, bei der die Zwischentöne auf der Strecke bleiben.  

Der Mensch hat Lust, sich zu berauschen, weil im Zustand innerer Benebelung alles klar erscheint. Gerade ist viel von Work-Life-Balance die Rede, aber es sollte auch eine Stoned-clear-Balance geben. Auf die Ausgewogenheit kommt es an. Manchmal ist der Nebel schön, oft tut es not, klare Sicht zu haben. Hin und wieder ist es notwendig, sich nicht verunsichern zu lassen, dann wieder tut es gut, zu differenzieren. Doch ganz egal, ob Klarheit oder Diffusität, das Zauberwort heißt Toleranz. Ich mag auch den Nebel, nicht nur, weil ich darin aufgewachsen bin. 

Über FRANZOBEL

FRANZOBEL ist ein österreichischer Schriftsteller. Er veröffentlichte zahlreiche Theaterstücke, Prosa und Lyrik. Seine Theaterstücke wurden unter anderem in Mexiko, Argentinien, Chile, Dänemark, Frankreich, Polen, Rumänien, der Ukraine, Italien, Russland und den USA gezeigt.

Sein großer historischer Abenteuerroman „Das Floß der Medusa“ (Zsolnay-Verlag) wurde mit dem Bayerischen Buchpreis 2017 ausgezeichnet und stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2017.