KONTROLLVERLUST, BITTE! // Kolumne by Helder Suffenplan

Khnopff, Fernand 1858 – 1921 “Des caresses” (Die Sphinx), 1896. Öl auf Leinwand, 50,5 × 150 cm. Inv. 6768 Brüssel, Musées Royaux des Beaux-Arts.

Kontrollverlust, bitte!

Sigmund Freud sah Träume als rätselhafte Inszenierungen, in denen unser Unterbewusstsein unsere verdrängten Wünsche, Ängste und Leidenschaften lebendig werden lässt. Er erkannte in ihnen sogar alle Merkmale einer ausgewachsenen Psychose, Wahn Bildungen und Sinnestäuschungen inklusive. Gleichzeitig war er überzeugt: „Träume haben einen Sinn“ und sah in ihnen deshalb auch den Königsweg zu unserer Seele.

Das Thema lag zum Ende des 19. Jahrhunderts offenbar in der Luft, denn etwa zur gleichen Zeit entdeckten die Künstler des Symbolismus Traum, Rausch und Trance als Inspirationsquelle oft dekadenter oder absurder Bildschöpfungen, die Wahnsinn, Mystik und Wollust traumgleich vermengen: Eine Nackte führt ein Schwein an einer Leine spazieren (Pornocrates von Albert Bertrand, 1896); sündhaft schöne Chimären locken Jünglinge ins Verderben (Ödipus und die Sphinx von Gustave Moreau, 1864).

Auffallend viele Werke der Zeit thematisieren den Schlaf selbst als des Todes kleinen Bruder: Ein Kind auf einer Wiese liegend, Blumen im Mund; eine Schöne im antiken Gewand; ein Liebespaar, eng umschlungen – bei keinem von ihnen kann man sicher sein, ob sie schlafen oder nicht doch tot sind. Ferdinand Hodler inszenierte 1889 in „Die Nacht“ eine Gruppe lebloser junger Körper in einer Berglandschaft, nur einer von ihnen starrt mit weit offenen Augen auf Gevatter Tod in schwarzer Kutte, der sich auf seiner Brust niedergelassen hat. Ist es ein Alptraum oder hat die letzte Stunde geschlagen?

Ferdinand Hodler - Die Nacht (1889-90)
Ferdinand Hodler – Die Nacht (1889-90)

Nacht, Schlaf und Traum wecken offenbar auch tiefe Ängste – kein Wunder, bedeuten sie doch einen völligen Kontrollverlust. Der Körper geht auf Autopilot und auch im Kopf fällt jegliche Schranke: Wenn das Über-Ich Pause hat, können Wünsche, Emotionen und Gelüste sich unkontrolliert in unsere Träume einschleichen und am nächsten Morgen fragt man sich etwas geniert, was das wohl alles bedeuten mag.

Ich habe das Gefühl, dass Wahnsinn, Mystik und Wollust im Moment nicht sehr hoch im Kurs stehen, und das liegt sicher nicht nur an einem Mangel an Gelegenheiten wegen geschlossener Clubs und Bars. Pandemien sind einfach keine gute Zeit für einen Kontrollverlust. Wenn eine einzige Nachlässigkeit das eigene und das Leben anderer gefährden kann, geht es im Gegenteil um Selbstkontrolle, Disziplin und Durchhaltevermögen.

Vor Kurzem habe ich an dieser Stelle Parfums vorgestellt, die dem Kopf und der Seele in diesen besonderen Zeiten zu Klarheit und Weite verhelfen und so das Durchhalten erleichtern und verschönern.

Nun ist Parfum aber von Haus aus eigentlich ein ruchloser Verführer, und das liegt schon in seiner Wirkweise begründet: Kein anderer unserer Sinne ist so eng wie der Geruchssinn mit dem limbischen System verbunden, dem ältesten Teil unseres Gehirns, der vor allem für Emotionen und Triebe zuständig ist. Darum lässt uns das Parfum unserer ersten Liebe in Erinnerungen schwelgen und wecken animalische Düfte laszive Gedanken, ohne dass wir darüber Kontrolle hätten. Kein Wunder also, dass Parfumwerbung sich gerne der Bildsprache des Symbolismus bedient: Nackte Haut, laszive Posen und verdrehte Augen, wohin man auch schaut.

Art collections Royal Museums of Fine Arts Belgium Collections d'art des Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique Kunstcollecties Koninklijke Musea voor Schone Kunsten van België
Art collections Royal Museums of Fine Arts Belgium Collections d’art des Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique Kunstcollecties Koninklijke Musea voor Schone Kunsten van België

Darum möchte ich heute einmal eine Einladung zum begrenzten Kontrollverlust aussprechen! Ich meine das weniger als Eskapismus, sondern als Übung und Inspiration für die Zeit danach, damit wir es nicht ganz verlernen. Denn die Welt der Träume ist meiner Meinung nach nicht nur Abbild unserer Seele, sondern darüber hinaus ein Experimentierfeld und unsere direkte Verbindung zum überpersonalen, kollektiven Bewusstsein, in dem alle potenziellen Gedanken, Gefühle und Möglichkeiten verfügbar sind.

Franz von Stuck, Die Sünde, um 1912, Öl auf Leinwand, 88 x 52,5 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, © Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Leihgabe der Bundesrepublik Deutschand / Andres Kilger
Franz von Stuck, Die Sünde, um 1912, Öl auf Leinwand, 88 x 52,5 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, © Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Leihgabe der Bundesrepublik Deutschand / Andres Kilger

Als Erstes kommen mir zwei Düfte des 1856 gegründeten und 2012 wiedererstandenen Berliner Parfumhauses Schwarzlose in den Sinn, die den Exzess bereits im Namen tragen: „Rausch“ erzählt mit Rosa Pfeffer, Patchouli und Oud von einer Berliner Clubnacht und „Trance“ verspricht dem Träger eine „Metamorphose von Unschuld zu Sünde“ dank türkischer Rose, Gewürzen und lasterhaftem Absinth. Beide Düfte wurden von Veronique Nyberg kreiert.

„Trance“ von Schwarzlose Berlin

„Myrrh Casati” von Mona di Orio wiederum ist eine Hommage an die Symboliten-Muse Luisa Casati, die mit viel Kajal, fließenden Roben und exzentrischem Kopfputz einem Klimt-Gemälde entstiegen schien. Parfumeurin Melanie Leroux channelt die italienische Gräfin dank Süßholz, Weihrauch und Myrrhe auf elegante Weise.

„Myrrh Casati” von Mona di Orio

Kein anderer Parfumschöpfer nutzt das Unbewusste so konsequent wie Serge Lutens. Inspiriert von prägenden Erlebnissen seiner Kindheit und bevölkert von antiken und modernen Archetypen, erscheint Serge Lutens’ Kosmos fast wie das Dokument einer olfaktorischen Psychoanalyse – und ist dennoch zugänglich und bereichernd für jeden, der sich darauf einlässt. Für „Dent de Lait“ bat er seinen Hausparfumeur Christopher Sheldrake, mit Heliotrop, Mandel- und Milchnoten das Erlebnis des Verlusts des ersten Milchzahns nachzuempfinden.

„Dent de Lait“ by Serge Lutens

Für ihn ein Initiationsritus, „der den Übergang von der Kindheit zum Lebensalter der Vernunft markiert.“

Nie duftete Freud schöner, oder doch? Seine Urenkelin, die Modedesignerin Bella Freud, lancierte 2017 den Duft „Psychoanalysis“. Leider verrät sie nicht, ob sie dabei explizit die Bedeutung von Parfum als Tor zum Unbewussten im Sinn hatte. Dass es sich hier um einen ledrigen Tabak-Duft handelt, hätte den passioniert Zigarre rauchenden Urgroßvater sicherlich sehr erfreut.

„Psychoanalysis“ by Bella Freud

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Helder Suffenplan

HELDER SUFFENPLAN

ist unabhängiger Publizist und Creative Consultant aus Berlin. Schon seit seiner Kindheit hegt er eine besondere Leidenschaft für Parfums. Mit dem erfolgreichen Start von SCENTURY.com – dem ersten Online-Magazin für Perfume Storytelling – im Jahr 2013 wurde Helder zur anerkannten Persönlichkeit in der globalen Welt der Düfte. Er war Jurymitglied u. a. für The Art & Olfaction in Los Angeles oder dem Prix International du Parfumeur- Créateur, Paris. Als Autor verbindet er sein Lieblingsthema Parfum mit vielfältigen Bereichen wie zeitgenössischer Kunst, Popkultur, Literatur, Film und Geopolitik.

Foto: Holger Homann