Hänsel und Gretel reloaded
Vollkommenheit ist nie von Dauer, daher gilt es, Schönheit im Unvollkommenen zu sehen. Die Japaner leben diese Idee mit der Philosophie des Wabi-Sabi. Alle Dinge sind anmutig, gerade die mit Fehlern. Auf die Menschen hat man das nicht übertragen können, da gilt im Land der aufgehenden Sonne nach wie vor: Leistungszwang, Perfektionismus, Erfolg.
Früher war die Welt politischer.
Klassenkampf, Rassenwahn, Kampf um Gleichberechtigung. Vor fünfzig Jahren wurde in Westeuropa auf Demonstranten geschossen, kam es zu Gewalt und Gegengewalt. Zuerst Studentenunruhen, dann die Rote Armee Fraktion: Kaufhausbrände, Entführungen, Morde. Hänsel und Gretel waren mittendrin. Beide stammten aus autoritären Elternhäusern und haben im Staat die Verlängerung ihrer tyrannischen Missbrauchsväter gesehen. Beide gerieten ins Umfeld der RAF, wollten den Mächtigen zeigen, dass sie nicht mehr sicher sind. Überfälle, Gefangenenbefreiungen, Flucht. Hänsel und Gretel waren jung und glaubten, über den Mond springen zu können. Sie waren nicht gewalttätig, aber gewaltbereit, wurden verhaftet, saßen im Gefängnis und haben überlebt.
Heute leben die ehemaligen Bürgerschrecke in einem bescheidenen Häuschen am Waldesrand. Sie beziehen eine kleine Rente für die Berufe, die sie nach ihrer Haft ausgeübt haben. Hänsel mischt morgens Olivenöl mit Haferflocken und löffelt den Brei auf ein Holzbrett neben der Veranda. Wenig später kommen Blaumeisen, Kleiber, Stare, junge Spechte. Am schönsten singt die Mönchsgrasmücke, ein unscheinbarer grauer Vogel, für den sie extra den als „Strauch der Hera“ bezeichneten Mönchspfeffer gepflanzt haben, dem libidosenkende Wirkung nachgesagt wird. Daneben stehen Gazanien, weil Grünfinken darauf fliegen, und Holunder, der die Maulwürfe abhalten soll. Kaum sind die Vögel satt, kommt Harvey, ein Eichhörnchen, und holt sich Nüsse, die Hänsel immer in der Hosentasche hat. Harvey frisst ihm wortwörtlich aus der Hand. Dann gibt es noch Susi, eine Füchsin, die in zwei Bauten ihre Jungen durchbringen muss – entsprechend ausgemergelt sieht sie aus. Hänsel und Gretel füttern sie nicht, weil man das bei Raubtieren nicht machen soll. Im Teich leben Frösche und nachts kommen Waschbären zu Besuch.
Am Esstisch stapeln sich Bücher über Singvögel und Gartenpflanzen. Früher haben Hänsel und Gretel Marx und Mao gelesen, über die Hexe Kapitalismus geschimpft, heute interessieren sie sich für Flora und Fauna und sind glücklich. Sie haben zur Natur und damit zu sich selbst gefunden.
Glücklich ist man, wenn das Leben leistbar ist, man Geschmack hat und genießen kann.
Besonders für Letzteres fehlt vielen das Talent. Die meisten denken, Geld macht glücklich, weil Geld ein Bügeleisen ist, mit dem man alles glattbügeln kann. Aber Geld macht nur unglücklich, wenn man keines hat. Es gibt kein vollkommenes Leben. Wir müssen lernen, wie im Wabi-Sabi die kleinen Fehler zu akzeptieren. Es gibt keine endgültigen Wahrheiten, aber das Leben fühlt sich für Hänsel und Gretel heute wahrhaftiger und ehrlicher an. Nun wollen sie nicht mehr die Gesellschaft ändern, sondern nur noch Harvey und die Vögel heil über den Winter bringen. Heute geht es ihnen nicht mehr um den antiimperialistischen Klassenkampf, sondern um artgerechte Fütterung und Mondphasen. Früher hätten sie diese Kleingartenmentalität ausgelacht, aber heute spürt sie sich sehr richtig an.
Franzobel ist ein österreichischer Schriftsteller. Er veröffentlichte zahlreiche Theaterstücke, Prosa und Lyrik. Seine Theaterstücke wurden unter anderem in Mexiko, Argentinien, Chile, Dänemark, Frankreich, Polen, Rumänien, der Ukraine, Italien, Russland und den USA gezeigt.
Sein großer historischer Abenteuerroman „Das Floß der Medusa“ (Zsolnay Verlag) wurde mit dem Bayerischen Buchpreis 2017 ausgezeichnet und stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2017.
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